vollständige Diplomarbeit - Socialnet
vollständige Diplomarbeit - Socialnet
vollständige Diplomarbeit - Socialnet
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Traumatisierung, der erkennbaren Bestandteile eines gesellschaftlichen Prozesses [...] der<br />
Individuen als zerstörte hinterlässt“ (Becker 1997a, S.28). Damit sind auch „interpersonelle<br />
Schäden“ (ebd. S. 33) bspw. im familiären System gemeint, wie Parentifizierung, die<br />
Unfähigkeit zu trauern sowie intrafamiliäre Gewalt oder intergenerationale Weitergabe von<br />
Leid durch Folter und andere Menschenrechtsverletzungen (vgl. Becker 2001). Der Einbezug<br />
der Gesellschaftlichkeit des Leides sei jedoch nicht ohne Anstrengungen zu erlangen.<br />
„Es ist kaum möglich, ihm [dem Phänomen der Traumatisierung, K.R.] in seiner<br />
Totalität gerecht zu werden. Entweder stehen die Einzelschicksale im Vordergrund,<br />
was zu einer Vernachlässigung der gesellschaftlichen Zusammenhänge führt, oder<br />
wir beschäftigen uns mit den politischen Verhältnissen und verlieren die Einzelnen,<br />
die gelitten haben, aus den Augen. [...] Strukturanalysen ermöglichen kaum die<br />
Beschäftigung mit dem individuellen Leid und die Konzentration auf das Schicksal<br />
der Einzelnen lässt oft die Vermittlung mit der gesellschaftlichen Realität außen vor“<br />
(Becker 1997a, S. 28f).<br />
Keine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen allein könne das Leid eines<br />
Individuums vollständig erfassbar machen. Die Konzentration auf das individuelle<br />
Einzelschicksal berge aber die Gefahr, „dieses mit einem umfassenden Verständnis des<br />
gesellschaftlichen Prozesses zu verwechseln“ (ebd. S. 29). Auch sei es gänzlich indiskutabel,<br />
dass durch Diagnose einer PTSD der Schaden von Opfern politisch motivierter Gewalt als<br />
„Geisteskrankheit“ (ebd. S. 34) präsentiert werde. Eine Traumatisierung, verursacht durch<br />
politische Gewalt, könne nur in dem jeweils spezifischen Kontext, in dem sie stattfindet,<br />
verstanden werden. „Natürlich gibt es übergreifende Erfahrungen und ähnliche Sachverhalte,<br />
aber es handelt sich immer wieder um neu zu verstehende, spezifische Kontexte, weil wir<br />
sonst nicht davon reden können, was den Menschen wirklich passiert“ (Becker 1997b, S. 79)<br />
ist.<br />
Als Ausweg aus dem scheinbar unlösbaren Dilemma, entweder Opfer zu pathologisieren<br />
oder in ihren individuellen Leiden zugunsten gesellschaftlicher Analysen zu ignorieren,<br />
präsentiert Becker das Konzept der Extremtraumatisierung, angelehnt an Überlegungen des<br />
Psychoanalytikers Bruno Bettelheim (Becker 1995; Becker 1997a; Becker 2002b). In dem<br />
bereits 1943 erschienenen Artikel „Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen“<br />
(nach Becker 2002b, S. 3) stellt Bettelheim seine Erfahrungen in einem Konzentrationslager<br />
detailliert als „Extremtraumatisierung“ (Becker 1997a, S. 35) dar. Bettelheim beschreibt die<br />
traumatische Situation in einem Konzentrationslager als eine Situation der<br />
Unausweichlichkeit, der Unvorhersagbarkeit im allgemeinen, sowie über die Dauer der<br />
Situation, die alltägliche unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben, gegen die das Subjekt<br />
nichts unternehmen kann (nach Becker 2002b, S. 4). Becker bezeichnet diese Fassung von<br />
Trauma als „revolutionär“ (ebd.). Es werde deutlich, dass es bei Trauma nicht nur um innere<br />
52