vollständige Diplomarbeit - Socialnet
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demjenigen, den er befragt, gesellschaftlich sehr nahe, kann sich der Befragte<br />
aufgrund dessen, dass er am Platz des Anderen stehen könnte, davor sicher fühlen,<br />
dass seine subjektiven Beweggründe nicht auf objektive Ursachen und seine als frei<br />
erlebten Entscheidungen nicht auf die Folge objektiver, in der Analyse offengelegter<br />
Determinismen reduziert werden. Zweitens ist in diesem Fall außerdem sichergestellt,<br />
dass ein unmittelbares und ständig neu bestätigtes Einvernehmen hinsichtlich des<br />
Vorverständnisses zu den Inhalten und Formen der Kommunikation besteht“ (ebd. S.<br />
783).<br />
Dieses gegenseitige Einvernehmen äußert sich in einem gegenseitigen Wissen und<br />
Einverständnis über die besprochenen Gesprächsthemen, welches einen vertrauensvollen und<br />
bedeutungsvollen Gesprächsfluss ermöglichen soll 120 . Abgesehen von der strategischen<br />
Auswahl der Interviewenden, die aus einer übereinstimmenden Position ihre Befragten<br />
wählen,<br />
„gibt es noch jene Befragungsbeziehungen, in denen er es zumindest teilweise selbst<br />
schafft, die soziale Distanz zu überwinden, und zwar dank eines<br />
Vertrauensverhältnisses zwischen ihm und dem Befragten und dank einer sozialen<br />
Aufrichtigkeit, welche einem freien und offenen Reden förderlich und durch die<br />
Existenz diverser sekundärer Solidaritätsbindungen gewährleistet ist, die ein<br />
wohlwollendes Verstehen garantieren: Familienbeziehungen, Jugendfreundschaften<br />
oder, wie einige Interviewerinnen berichten, die Komplizinnenschaft zwischen<br />
Frauen haben es nicht selten ermöglicht, die mit den unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Bedingungen verknüpften Hindernisse zu überwinden“ (ebd. S.<br />
785).<br />
Als mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen verknüpfte Hindernisse<br />
führt Bourdieu Klasse oder Ethnizität an, die einer gewaltfreien Kommunikation<br />
entgegenstehen können. Wenig problematisiert wird allerdings, dass ein Interview zwischen<br />
zwei vermeintlich ‚Betroffenen’ auch eine Homogenisierung der Positionen und Perspektiven<br />
der GesprächspartnerInnen führen kann, indem die interviewte Person auf eine vermeintliche<br />
Zugehörigkeit reduziert wird. Durch die Betonung einer Zugehörigkeit können andere<br />
Zugehörigkeiten verwischt werden. Dem Problem der multiplen Gruppenzugehörigkeiten<br />
kann jedoch durch den Versuch der Explikation der unterschiedlichen Zugehörigkeiten, die<br />
im Gespräch eine Rolle spielen könnten, entgangen werden 121 . Auch wird nicht auf eventuelle<br />
spezifische, auf eine ähnlich gelagerte Position oder Zugehörigkeit der GesprächspartnerInnen<br />
zurückführbare, Auslassungen und Einrichtungen mit den Verhältnissen eingegangen.<br />
120 Als Beispiel hierfür wird eingebracht „Wenn ein Physiker einen anderen jungen Physiker interviewt (oder ein<br />
Schauspieler einen anderen Schauspieler, ein Arbeitsloser einen anderen Arbeitslosen), mit dem er fast die<br />
Gesamtheit aller als Haupterklärungsfaktoren für seine Praktiken und seine Repräsentationen in Frage<br />
kommenden Eigenschaften teilt und mit dem er zutiefst vertraut ist, entspringen seine Fragen seinen<br />
Dispositionen, die objektiv mit denen des Befragten in Einklang stehen. Und selbst wenn er die Fragen stellt, die<br />
auf gröbste Weise zu objektivieren versuchen, erscheinen sie seinem Gesprächspartner doch nicht bedrohlich<br />
oder aggressiv, weil dieser ganz genau weiß, dass beide Beteiligten im Hinblick auf das, was er auf die Fragen<br />
hin preisgeben soll, wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen und sie somit auch die Risiken dieser Preisgabe<br />
gemeinsam tragen. Der Interviewer seinerseits wird wohl kaum vergessen, dass den Befragten zu objektivieren<br />
bedeutet, auch sich selbst zu objektivieren“ (Bourdieu 1997/2002b, S. 784).<br />
121 Dies wird in dieser <strong>Diplomarbeit</strong> in dem Unterkapitel 6.6. zur Beziehung der Interviewerin zu den<br />
Interviewten versucht, auch in den analytischen Einleitungen der Interviews mit Lejla, Munira und Katarina.<br />
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