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3.1.2. ‚Hysterische Patientinnen’. Verführung oder Phantasie?<br />
Die Krankheit der Hysterie wurde schon im 18. Jahrhundert diskutiert. Der Begriff der<br />
Hysterie leitet sich von dem altgriechischen Wort Hyster ab, welches für Gebärmutter steht.<br />
Hippokrates führte den Begriff Hysterie für bestimmte körperliche Erkrankungen bei Frauen<br />
in Abhängigkeit von der Gebärmutter ein (vgl. Roche Lexikon Medizin 1987). Lange wurde<br />
eine organische Ursache für die Symptome von an ‚Hysterie’ erkrankten Frauen<br />
angenommen. In Frankreich wiesen als erstes die Mitarbeiter des psychiatrischen<br />
Krankenhauses Salpêtriére Charcot (1887) und Janet (1889) auf die Bedeutung eines wahren<br />
Erlebenshintergrundes für die ‚hysterischen’ Symptome ihrer Patientinnen hin. Auch Pariser<br />
Gerichtsmediziner 67 berichteten in dieser Zeit über weit verbreitete Misshandlungen und<br />
Vergewaltigungen und thematisierten die Folgeerscheinungen. „Im Gegenzug dazu aber<br />
wurden aber Aussagen von Kindern und Frauen, missbraucht worden zu sein, als hysterisches<br />
Symptom, als pseudologica phantastica und als kindliche Mythomanie relativiert und<br />
abgetan“ (Langkafel 2000 S. 7). In seinen „Leçons du mardi“ (Herman 1994, S. 20) führte<br />
Charcot Hypnosen an seinen erkrankten Patientinnen vor Publikum durch. Diese<br />
theatralischen Vorlesungen entwickelten sich zu einem gesellschaftlichen Ereignis für die<br />
französische ‚gute Gesellschaft’. Insbesondere Charcots Schüler Janet wandte sich intensiv<br />
dem „Phänomen der Dissoziation für die Bewältigung traumatischer Erfahrungen“<br />
(Liebermann et. al. 2001, S. 14) zu. Wegen seiner Annahme, dass die Leiden der<br />
‚hysterischen’ Patientinnen in der Salpêtriére auf real erlebten ‚traumatischen’ Erfahrungen<br />
wie sexualisierten Gewalterfahrungen beruhten, wurde Janet in der wissenschaftlichen<br />
Community ausgegrenzt, seine wissenschaftlichen Arbeiten gerieten in Vergessenheit (vgl.<br />
Herman 1994).<br />
Auch Sigmund Freud arbeitete für einige Zeit mit Charcot und Janet in der Salpêtriére und<br />
sammelte erste Erfahrungen in der Arbeit mit ‚hysterischen’ Patientinnen. Zurückgekehrt<br />
nach Wien, führten Freud und Breuer zunächst die Vielfalt ‚hysterischer’ Symptome auf eine<br />
real erlebte sexualisierte Gewalterfahrung (‚Verführung’) insbesondere in der Kindheit<br />
zurück. Ähnlich wie Janet fassten sie ‚Hysterie’ als einen Zustand auf, „der durch ein<br />
psychisches Trauma verursacht wird. Unerträgliche Gefühlsreaktionen auf traumatische<br />
Ereignisse verursachen Bewusstseinsveränderungen, die wiederum hysterische Symptome<br />
hervorrufen“ (Herman 1994, S. 23). In seinem Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“, gehalten<br />
am 21. April 1896 vor dem Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie, vertrat Freud die<br />
67 Gerichtsmedizinerinnen praktizierten nicht zu dieser Zeit in Paris.<br />
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