I. Literatur

gen, den ich bestellt hatte für Reinhardt, war zu schäbig, ein grosser Buick musste ran. Und dann wieder nach 10 Bier
im Lokal Pöbelei mit dem Geschäftführer. So sind Juden: erst lauschen u wittern sie, ob man sie rausschmeisst; schmeisst
man sie nicht raus, werden sie frech. Mein Bedarf an Juden ist gedeckt ..."
22. Dezember. "Liebes Morchen, manchmal denke ich, es genügt zu Weihnachten, dass man sich klar macht, wie rätselhaft
gut es ist, dass wir alle nicht krank sind, noch am Leben sind, keine ernsten Leiden haben, eine Wohnung, die Kinder
einigermassen zufrieden mit sich u. dem Schiksal, das man ihnen sehr unüberlegt auferlegt hat. Das denke ich heute
manchmal, aber Du denkst es nicht, Du bist realer, dingnäher, vielleicht verfeinerter als ich u. willst ausserdem noch gut
u schön leben! Sollst Du auch, Morle! Das Bild im Profil von Nele" (seiner Tochter) "- hast Du das noch? ... hübsch ist
sie da auch nicht. Ist halt kein hübsches Kind u. wird keine Liebe finden ..."
Das Widmungsexemplar mit einem eigenhändigem Gedicht mit Unterschrift auf dem Vorsatzblatt:
"2. V 1886 / 2. V 1936
Morchen, einziger Mensch, an dem ich hänge,
immer die neuen, die alten, die schmerzlichen Gesänge,
weiss schon selber nicht mehr, wo u. wer das war:
blondes, braunes, schwarzes und jetzt weisses Haar.
Weiss schon selber nicht mehr, wo der einzelne Vers entstand,
in welchem Thule, in welchem verlorenen Land.
Schakale alles, vorüber, Frau u. Mann,
niemand ist geblieben, niemanden sehe ich an,
Morchen allein ist Dauer, Freundschaft u. Menschheitssinn:
Stell in die Klingsorstrasse, die liebe, das Büchlein hin.
Hannover. Gottfried Benn."
21