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I. Literatur

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Meine Jugend, so darf ich sagen, hinderte mich nicht, den Ethiker in Nietzsche zu erkennen zu einer Zeit, als seine Mode=<br />

und Gassenwirkung auf einen kindischen Mißbrauch des Übermenschen=Namens hinauslief. Die seelischen Voraussetzungen<br />

und Ursprünge aber der ethischen Tragödie seines Lebens, dieses unsterblichen europäischen Schauspiels von<br />

Selbstüberwindung , Selbstzüchtigung, Selbstkreuzigung mit dem geistigen Opfertode als herz= und hirnzerreißenden<br />

Abschluß – wo anders sind sie zu finden, als im Protestantismus des Naumburger Pastorssohnes, als in jener<br />

nordisch=deutschen bürgerlich=dürerisch=moralistischen Sphäre, in welcher das Griffelwerk ‚Ritter, Tod und Teufel’<br />

steht, und die auf allen Fahrten die Heimatsphäre seiner Seele geblieben ist? ‚Mir behagt an Wagner’, schrieb er Oktober<br />

1868 an Rohde, was mir an Schopenhauer behagt: die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft.’ Das war<br />

um eine Zeit, als er Basel dreimal in einer Woche – der Karwoche – die Matthäus=Passion hörte … Kreuz, Tod und Gruft!<br />

Das ist ein weiteres Wesenselement der dürerischen=deutschen Charakterwelt, innig verschränkt mit jener ‚Männlichkeit<br />

und Ständigkeit’, jenem Rittertum zwischen Tod und Teufel: Passion, Kryptenhauch, Leidenssympathie, faustische<br />

Melencolia, – idyllisiert auch wohl zum frommen Stubenfleiß rezeptiven Friedens dessen Butzen malende Fenstersonne<br />

den Totenkopf wärmt, und dessen demütiger Kleinlichkeit Ewigkeitsblick und Größe gewahrt ist durch Sanduhr und lagernden<br />

Löwen …<br />

Mann hat sich wiederholt mit Dürer auseinander gesetzt. Dabei spielte Dürers Meisterstich ‚Ritter, Tod und<br />

Teufel’ (1513) eine zentrale Rolle. Mann bezeichnete ihn in seinen ‚Betrachtungen eines Unpolitischen’ (1918)<br />

als persönliches Zeichen und sah in ihm den Inbegriff von Nietzsches und seiner eigenen protestantisch-asketischen<br />

Weltsicht und ein faustisches, deutsches Meistertum. Er folgte darin der Nietzsche-Auffassung von<br />

Ernst Bertram (1884-1957). Mit dem aufkommenden Nationalsozialismus distanzierte sich Thomas Mann zusehends<br />

von Bertram, hielt aber an dessen Nietzsche-Auffassung fest, wie der vorliegende Aufsatz zeigt.<br />

Mann nahm den Text 1930 in „Die Forderung des Tages“ auf.<br />

Beilage: 1 Begleitbrief von Mann, L.S., Küsnacht 8.X.1936, bei Übersendung des Manuskripts an den Berliner<br />

Juristen und Wirtschaftsfunktionär Oscar Meyer (1876-1965), einen der führenden linksliberalen Politiker der<br />

Weimarer Republik.<br />

328 MANN, THOMAS, 1875-1955. L.A.S. München 29.XII.1929. 1 S. gr.-8°. Auf seinem Briefpapier. Leicht<br />

gebräunt. Mittelfalte brüchig (teilweise montiert). Mit Umschlag. (CHF 1’200.00)<br />

An Eugen Roth, damals Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, der ihn um einen Beitrag für ein<br />

„München-Büchlein“ gebeten hatte. – Am 10. Dezember war Thomas Mann in Stockholm der Nobelpreis verliehen<br />

worden.<br />

„... verzeihen Sie die verspätete Beantwortung Ihres Briefes! Ich bin seit mehreren Wochen stark überhäuft. Wollen Sie<br />

nicht an meinem guten Willen zweifeln, Ihnen ... zu dienen. Durch einen eigenen Artikel kann es leider nicht geschehen,<br />

aber mir ist Folgendes eingefallen. Bei dem Bankett im Rathaus neulich habe ich in Erwiderung der Ansprache des Oberbürgermeisters<br />

eine kleine Rede gehalten, die von München handelte und sich wohl umkonstruieren ließe ...“ – Das<br />

„Bankett“ hatte die Stadt München für den Nobelpreisträger bei seiner Rückkehr am 23. Dezember veranstaltet.<br />

„ungeheuer schwer, dem Juden im Allgemeinen<br />

eine bestimmte Zukunft zu prognostizieren“<br />

329 MANN, THOMAS, 1875-1955. L.S. Nidden 22.VIII.1930. 1 Einzelblatt gr.-4°, beidseitig beschrieben.<br />

Mit eigenhändigen Streichungen und Korrekturen. Der rechte Rand brüchig und mit kleinen Ausbrüchen<br />

(ohne Textverlust), Eckausrisse, alte Klammerspur, etwas vergilbt. (CHF 2’400.00)<br />

An einen ungenannten Herrn, der Thomas Mann nach dessen jüdischen Wurzeln und einer Einschätzung der<br />

Zukunft des Judentums fragte.<br />

„… Auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen, muss ich feststellen, dass kein Tropfen jüdischen Bluts in mir fliesst. Das<br />

geht ja aus dem stark autobiographisch gefärbten Buch, das meinen Namen zuerst bekannt gemacht hat, dem Lübecker<br />

Patrizier- und Kaufmanns-Roman ‚Buddenbrooks’ deutlich hervor. Dagegen stelle ich eine deutsch-romanische Blutmischung<br />

dar, da meine Mutter das Kind eines deutschen Vaters und einer Brasilianerin aus Rio de Janeiro war.<br />

So viel, was meine Person betrifft…<br />

Bei der vollkommenen Heterogenität der jüdischen Menschheit auf Erden ist es ungeheuer schwer, dem Juden im Allgemeinen<br />

eine bestimmte Zukunft zu prognostizieren oder zu wünschen. Ich war kürzlich in Palästina und habe dort genug<br />

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