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I. Literatur

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377 RILKE, RAINER MARIA, 1875-1926. L.A.S. „R M Rilke“. Paris 16.XI.1909. 8 S. kl.-4°. Leicht gebräunt.<br />

Minimale Faltenrisse. (CHF 5’000.00)<br />

Äußerst inhaltsreicher Brief an Gräfin Jeanne Bernstorff geb. Luckemeyer, die ihm den Gedichtband „Zwischen<br />

Frühling und Herbst“ ihrer Cousine Erika von Watzdorf zur Beurteilung zugesandt hatte. – Rilke nimmt<br />

die Gedichte zum Anlaß, der Gräfin das Wesen und Entstehen großer Poesie zu veranschaulichen.<br />

„... Ich habe mir eine Menge Seitenzahlen herausgeschrieben (im Guten wie im Bösen) zumal aus den ersten<br />

dreiviertheilen des Bandes; denn die späteren Abschnitte ... wollen mir nichts recht Eigenes geben ... Als Ganzes läßt sich<br />

das Buch ... schlecht übergehen, es ist zu lang ... Für das Einzelne bin ich eher eingenommen, ganz besonders aber für<br />

Einzelnes im Einzelnen: dort in einer Zeile, ja in dem Bruchtheil einer Zeile ist manchmal ein Gedicht: die Konsistenz,<br />

Stärke, und Expansion eines wirklichen Gedichtes ... In dem langen Gedicht von 61/62 lesen Sie die Zeile: ‘Du wärst mit<br />

Gott allein in meiner Seele’: welches hohe Liebesversprechen; man würde ein kurzes unvergleichliches Gedicht vermuthen:<br />

denn wieviele solche Zeilen dürfte man ertragen? Und nun 64: welcher große Dichter muß es sein, der von einer<br />

Nacht zu sagen wagt: ‘Und ist von jungen Härten so erfüllt, / daß man sie ‘Kind’ und ‘Thörin’ nennen möchte’ (vielleicht<br />

des Buches kostbarste Stelle) ..., aber kein ganzes Gedicht konnte mich in dieser Art überzeugen. Sie gehen so rasch<br />

und leicht in ihren Strophen dahin, diese Gedichte, sie sind, wo nichts gegen sie zu sagen ist, so sehr geglückt, daß sie ihr<br />

Gefühl davontragen statt es, stehend, in sich zu sammeln. Ein größerer Künstler müßte diese Geschicklichkeit ablehnen;<br />

er müßte es sich schwerer machen, dies strophenbildende Können überwinden und sich ein nächstes zumuthen ...“ – Es<br />

folgen einige Beispiele sowie von Rilke „umgeschriebene“ Gedichtstellen.<br />

„... sträubte sich die Dichterin gegen ihren glatten Verlauf, so böge sich auch die in allen gleiche Kurve anders, tausendfach<br />

ab, die jetzt in immer demselben ermüdenden Bogen zur ‘Pointe’ hineilt. Uns berührt ein pointiertes Gedicht doch<br />

etwa nur noch wie ein Finger, an dem eine Stelle krankhaft empfindlich ist: überall darf man seine Form gelassen abfühlen,<br />

preist man aber einen bestimmten Punkt, so ist alles mit einem kleinen Schrei fort: so ist auch ein Gedicht, das auf<br />

eine betonte Wendung zugeht am Schluß von einer peinlichen lokalen Empfindlichkeit: es giebt einen Laut von sich,<br />

schmerzhaft oder vergnügt, und entzieht sich mit einem Ruck ...<br />

Es gab ja auch Dichtergenerationen, die in solcher Nachgiebigkeit an die Erfolge rhythmischer Gymnastik etwas durchaus<br />

Gefälliges sahen, und noch sind Leser genug da, die einem Gedicht zusehen wie einem Akrobaten, der schließlich<br />

zu irgend einer erleichternden Schlußpose aus dem Trapez springt. Dies wäre vielleicht also etwas Altmodisches; aber die<br />

Gedichte ... sind altmodisch noch in einem anderen, sympathischen Sinn … Einiges auch denkt man sich, Gott weiß<br />

wieso, nur vorgelesen, nach einem in Park und Wald verbrachten Herbstnachmittag; ein Kaminfeuer rührt sich dazwischen,<br />

die Kerzen flackern ein wenig im Saal, vielleicht gestreift von den äußersten Bewegungen, in denen sich die schöne<br />

Stimme hinzieht, ihr Dunkel an das Dunkel oben der Wölbung verlierend ...“<br />

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