Lateinische epistemische Partikeln - VU-DARE Home - Vrije ...
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132 §12.3<br />
ein Satzadverb, da es allein vorkommen kann; für videlicet gibt es jedoch keine Belege,<br />
was aber an der Überlieferung liegen könnte (siehe §12.3.6). In Analogie könnte man<br />
aber auch videlicet ein Satzadverb nennen. Ich werde neutral das Wort<br />
„(„Commitment-‟)Marker‟ oder „Partikel‟ verwenden.<br />
12.3. Vergleich zwischen scilicet und videlicet<br />
Von der Etymologie her („man kann wissen‟ bzw. „sehen‟) kann man scilicet und<br />
videlicet unter den evidentiellen <strong>Partikeln</strong> einordnen, und auch ihre Funktion bestätigt<br />
dies, wie wir sehen werden. Es gibt aber deutliche Unterschiede zwischen beiden: Scilicet<br />
(Beispiel 11) drückt aus, dass etwas selbstevident ist, den Erwartungen konform, gehört<br />
also zu den Adverbien der Erwartung (siehe Kapitel 4.1). Videlicet (Beispiel 12) dagegen<br />
drückt aus, dass etwas klar zu sehen, evident ist, nicht basiert auf Erwartungen, sondern<br />
auf Inferenz oder „reasoned‟ (siehe Kapitel 4.1 und 4.2.1).<br />
11. (=8) CIC. Att. 14, 7, 1 a te scilicet nihil; nemo enim meorum.<br />
Von dir natürlich nichts ; keiner von meinen Leuten<br />
.<br />
12. (=9) CIC. Tusc. 5, 97 Darius in fuga cum aquam turbidam et<br />
cadaveribus inquinatam bibisset, negavit umquam se bibisse iucundius;<br />
numquam videlicet sitiens biberat.<br />
Als Darius auf der Flucht trübes und durch Leichen verunreinigtes<br />
Wasser getrunken hatte, sagte er, er habe nie etwas Angenehmeres getrunken;<br />
er hatte offensichtlich nie mit Durst getrunken.<br />
Ein wichtiger Effekt bei scilicet ist, dass Solidarität oder Konsens mit dem Adressaten<br />
suggeriert wird. Oft bedeutet es deshalb nicht nur oder nicht mehr „wie zu erwarten<br />
war/ist‟, sondern „wie alle wissen‟ oder „wie du weißt/ wissen sollst‟ (vgl. of course in<br />
Simon-Vandenbergen & Aijmer, 2007, 29). Scilicet bezieht, an den Aspekt der Erwartung<br />
geknüpft, neben dem Sprecher auch den Adressaten mit ein, es ist „intersubjektiv‟ nach<br />
Traugott (siehe Kapitel 4.2.5), videlicet tut dies nicht: Es ist entweder ganz auf den Sprecher<br />
gerichtet, oder auf alle im Allgemeinen. Hiermit hat scilicet sich also weiter als<br />
videlicet auf der folgenden „cline‟ entwickelt (siehe Kapitel 5.1):<br />
nicht-subjektiv > subjektiv > intersubjektiv<br />
Die Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen scilicet und videlicet äußern sich in<br />
den verschiedenen Kontexten, worin sie verwendet werden können, und in unterschiedlichen<br />
Effekten, was in den nächsten Paragraphen gezeigt wird: in „Basis‟ und Kontrasten<br />
(§12.3.1), welche Person das Verb der Proposition hat (§12.3.2 und 12.3.3), in direktiven<br />
Sprechakten (§12.3.4), welche Zeit das Verb der Proposition hat (§12.3.5), in Reaktionen<br />
(§12.3.6), mit welchen Skopus (§12.3.7), in Fragesätzen (§12.3.8.1) sowie in ironischen<br />
Sätzen (§12.3.8.2), und mit welchen anderen <strong>Partikeln</strong> es verknüpft wird (§12.3.9).