Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) - gesamtausgabe
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150<br />
II. Der Anklang<br />
76. Siitze iiber »die Wissenschaft«<br />
151<br />
der Wissenschaft liegenden Strenge. Bedeutet aber »exakt«<br />
soviel wie zahlenmaBig bestimmt, gemessen und errechnet,<br />
dann ist die Exaktheit der Charakter einer Methode selbst<br />
(ja schon des Vorbaues), nicht bloB der Art ihrer Handhabung.<br />
12. Bedeutet »Exaktheit« das messende und rechnende Verfahren<br />
selbst, dann gilt der Satz: Eine Wissenschaft kann nm<br />
exakt sein, weil sie streng sein muB.<br />
13. Eine Wissenschaft mu[3 aber exakt sein (urn streng, d. h.<br />
Wissenschaft zu bleiben), wenn ihr Sachgebiet im voraus<br />
angesetzt ist als ein nur in quantitativer Messung und Rechnung<br />
zuganglicher und so allein Ergebnisse gewahrender<br />
Bereich (der neuzeitliche Begriff der »Natur«).<br />
14. Die »Geisteswissenschaften« dagegen mussen, urn streng zu<br />
sein, notwendig unexakt bleiben. Das ist kein Mangel, sondern<br />
ihr Vorzug. Dabei bleibt die Durchfuhrung der Strenge<br />
der Geisteswissenschaften leistungsmaBig immer sehr<br />
viel schwieriger als die Ausfuhrung der Exaktheit der »exakten«<br />
Wissenschaften.<br />
15. Jede Wissenschaft ist als positive und einzelne in ihrer<br />
Strenge angewiesen auf die Kenntnisnahme ihres Sachgebietes,<br />
auf die Erkundung desselben, auf die E!J.1tELQta. und<br />
das experimentum im weitesten Sinne. Sogar die Mathematik<br />
bedarf der experientia, der einfachen Kenntnisnahme<br />
ihrer einfachsten Gegenstande und deren Bestimmungen in<br />
den Axiomen.<br />
16. Jede Wissenschaft ist untersuchende Erkundung, aber nicht<br />
jede Wissenschaft kann »experimentell« sein im Sinne des<br />
neuzeitlichen Begriffes des Experimentes.<br />
17. Die messende (exakte) Wissenschaft dagegen mu[3 experimenteZZ<br />
sein. Das »Experiment« ist eine notwendige Wesensfolge<br />
der Exaktheit, und keineswegs ist eine Wissenschaft<br />
deshalb exakt, weil sie experimentiert (vgl. uber experiri,<br />
experimenturn und »Experiment« als Versuchsanordnung<br />
imneuzeitlichen Sinne, Der Anklang, 77.).<br />
18. Die neuzeitliche Gegenform <strong>zur</strong> »experimentellen« Wissenschaft<br />
ist die aus »Quellen« schopfende »Historie« und deren<br />
Abart, die »Priihistorie«, an der vielleicht das Wesen<br />
aZZer Historie, daB sie niemals die Geschichte erreicht, am<br />
eindringlichsten verdeutlicht werden kann.<br />
AIle »Historie« nahrt sich aus dem Vergleichen und dient<br />
der Ausweitung der Moglichkeiten des Vergleichens. Obzwar<br />
das Vergleichen es scheinbar auf die Unterschiede abgesehen<br />
hat, so werden doch fur die Historie die Unterschiede<br />
nie <strong>zur</strong> entschiedenen Verschiedenheit und d. h. <strong>zur</strong><br />
Einzigkeit des Einmaligen und Einfachen, angesichts dessen<br />
die Historie, falls sie jemals vor Solches bringen konnte,<br />
sich selbst als un<strong>zur</strong>eichend erkennen muBte. Die ungewuBte<br />
Vorahnung der ihr yom Geschichtlichen drohenden<br />
Verneinung ihres eigenen Wesens ist der innerste Grund,<br />
weshalb das historische Vergleichen die Unterschiede nur<br />
faBt, urn sie in einen weiteren und verwickelteren Bezirk<br />
der Vergleichbarkeit einzuordnen. Alles Vergleichen ist<br />
aber im Wesen ein Gleichmachen, die Ruckbeziehung auf<br />
ein Gleiches, das als solches gar nicht ins Wissen kommt,<br />
sondern jenes Selbstverstandliche ausmacht, aus dem alles<br />
Erklaren und Beziehen seine Klarheit nimmt. Je weniger<br />
die Geschichte selbst, je mehr nur die Taten, Werke, Erzeugnisse<br />
und Meinungen als Begebenheiten in ihrer Abfolge<br />
und Verschiedenheit verzeichnet und verrechnet und<br />
dargestellt werden, umso leichter kann die Historie der ihr<br />
eigenen Strenge genugen. DaB sie sich immer in diesem<br />
Bezirk bewegt, wird am deutlichsten erwiesen durch die Art<br />
des »Fortschritts« der historischen Wissenschaften. Dieser<br />
besteht in der jeweiligen und jeweils verschieden verursachten<br />
Auswechslung der leitenden Hinsichten des Vergleichens.<br />
Die Entdeckung des sogenannten neuen »Materials«<br />
ist immer die Folge, nicht der Grund der neu gewahlten<br />
Hinsicht des Erklarens. Dabei kann es Zeiten geben, die<br />
sich bei scheinbarer Ausschaltung aller »Deutungen« und