Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) - gesamtausgabe
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154 II. Der Anklang<br />
76. Siitze ilber »die Wissenschaft«<br />
155<br />
Wird die Geschichte nicht historisch erkHirt und auf ein<br />
bestimmtes Bild zu bestimmten Zwecken der Stellungnahme<br />
und Gesinnungsbildung verrechnet, wird vielmehr die<br />
Geschichte selbst in die Einzigkeit ihrer Unerklarbarkeit<br />
<strong>zur</strong>iickgestellt und durch sie aller historische Umtrieb und<br />
jedes von ihr entspringende Meinen und Glauben in Frage<br />
und <strong>zur</strong> standigen Entscheidung iiber sich selbst gesteIlt,<br />
dann voIlzieht sich das, was das Geschichtsdenken genannt<br />
werden kann. Der Geschichtsdenker ist ebenso wesentlich<br />
verschieden yom Historiker wie yom Philosophen. Er darf<br />
am allerwenigsten mit jenem Scheingebilde zusammengebracht<br />
werden, das man »Geschichtsphilosophie« zu nennen<br />
pflegt. Der Geschichtsdenker hat die Mitte seiner Besinnung<br />
und Darstellung jeweils in einem bestimmten<br />
Bereich des Schaffens, der Entscheidungen, der Gipfel und<br />
Abstiirze innerhalb der Geschichte (sei es die Dichtung, sei<br />
es die bildende Kunst, sei es die Staatsgriindung und Fiihrung).<br />
Sofem das gegenwartige und das kiinftige Zeitalter,<br />
obzwar in ganz verschiedener Weise, als geschichtliche sich<br />
entfalten, das gegenwartige-neuzeitliche, sofem es historisch<br />
die Geschichte abdrangt, ohne ihr ausweichen zu konnen,<br />
das kiinftige, sofem es in die Einfachheit und Scharfe geschichtlichen<br />
Seins einschwenken muB, verwischen sich heute<br />
notwendig, von auBen gesehen, die Grenzen der Gestalten<br />
des Historikers und des Geschichtsdenkers; dies umso<br />
mehr, als die Historie entsprechend der zunehmenden Auspragung<br />
ihres zeitungswissenschaftlichen Charakters auf<br />
Grund ihrer reportagemaBigen Gesamtdarstellungen den<br />
verfanglichen Anschein einer iiberwissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung<br />
verbreitet und so die geschichtliche Besinnung<br />
vollig in Verwirrung bringt. Diese wird aber noch<br />
einmal gesteigert durch die seit Augustinus' civitas dei in<br />
Ubung und <strong>zur</strong> Macht gekommene christliche Geschichtsapologetik,<br />
in deren Dienst heute bereits auch aIle Nichtchristen<br />
getreten sind, denen an einer bloBen Rettung des<br />
Bisherigen, d. h. an der Verhinderung wesentlicher Entscheidungen,<br />
alles gelegen ist.<br />
Das echte Geschichtsdenken wird daher nur Wenigen erkennbar<br />
sein, und aus diesen Wenigen werden nur Seltene<br />
das geschichtliche Wissen durch den allgemeinen Mischmasch<br />
historischen Meinens hindurchretten in die Entscheidungsbereitschaft<br />
eines kiinftigen Geschlechts.<br />
Noch femer als die Geschichte ist die Natur geriickt, und<br />
die Abriegelung gegen diese wird umso vollstandiger, als<br />
die Erkenntnis der Natur <strong>zur</strong> »organischen« Betrachtung<br />
sich entwickelt, ohne zu wissen, daB der »Organismus« nur<br />
die Vollendung des »Mechanismus« darstellt. Daher kommt<br />
es, daB ein Zeitalter des hemmungslosen »Technizismus«<br />
zugleich seine Selbstdeutung in einer »organischen Weltanschauung«<br />
finden kann.<br />
19. Mit der zunehmenden Verfestigung des machenschaftlich<br />
-technischen Wesens aller Wissenschaften wird der gegenstandliche<br />
und verfahrungsmaBige Unterschied der Naturund<br />
Geisteswissenschaften immer mehr <strong>zur</strong>iicktreten. Jene<br />
werden zu einem Bestandstiick der Maschinentechnik und<br />
der Betriebe, diese breiten sich aus <strong>zur</strong> umfassenden Zeitungswissenschaft<br />
riesenhaften Umfangs, in der das gegenwiirtige<br />
»Erleben« fortlaufend historisch gedeutet und in<br />
dieser Deutung seiner moglichst raschen und moglichst<br />
eingangigen Veroffentlichung fiir Jedermann zugefiihrt<br />
wird.<br />
20. Die»Universitaten« als »Statten der wissenschaftlichen Forschung<br />
und Lehre« (solcher Art sind sie Gebilde des 19.<br />
Jahrhunderts) werden zu reinen und immer »wirklichkeitsnaheren«<br />
Betriebsanstalten, in denen nichts <strong>zur</strong> Entscheidung<br />
kommt. Den letzten Rest einer Kulturdehoration werden<br />
sie nur so lange behalten, als sie vorerst noch zugleich<br />
Mittel <strong>zur</strong> »kulturpolitischen« Propaganda bleiben miissen.<br />
Irgendein Wesen von »universitas« wird sich aus ihnen<br />
nicht mehr entfalten konnen: einmal, weil die politisch