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wiener beiträge zur musiktherapie band 3 theorie ... - Praesens Verlag

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In illo tempore<br />

2. Stunde:<br />

Frau G. kommt pünktlich. Sie setzt sich hin und schaut mich erwartungsvoll<br />

an.Ich schaue sie lange schweigend an. Sie fragt mich nach einigen Minuten des<br />

tapferen Schweigens unsicher: “ Womit fangen wir denn jetzt an?“ Ich antworte: „<br />

Mit Ihnen, Frau G.. Wir fangen mit Ihnen an, erzählen sie mir ihre Geschichte.“<br />

Frau G. beginnt, ohne auch nur einen Moment zu zögern. (In der Reflexion dieser<br />

Stunde scheint es mir, als habe sie darauf gewartet, daß endlich jemand zum<br />

Erzählen ihrer Lebensgeschichte einlädt). Sie erzählt die Lebensgeschichte ihrer<br />

Kindheit und Jugend in Rußland. Es fließt aus ihr heraus, es ist eine Reise in die<br />

Vergangenheit, zu den Schauplätzen ihrer Freuden und Schmerzen, sie erzählt als<br />

sei sie in Trance. In meinem Arbeitsraum scheinen sich alle Düfte, Geräusche und<br />

Farben der russisch-jüdischen Vergangenheit zu materialisieren. Mir ist, als säßen<br />

wir gemeinsam in ihrem Kinderzimmer. Und immer wieder erscheinen ihre Puppen,<br />

die sie in all der Zeit begleitet haben. Sie hat sie mit nach Wien genommen, und<br />

heute, wo es ihr so schlecht gehe, sperre sie sich jeden Abend in Ihrem Zimmer im<br />

10. Wiener Gemeindebezirk ein (sie lebt zusammen mit der Mutter) und halte diese<br />

Puppen lieb. Dann rieche sie wieder den Geruch der Kindheit.<br />

In dieser Stunde sage ich kein Wort. Nach 50 Minuten schaue ich auf die Uhr. Sie<br />

sagt:“ Ich habe jetzt ganz durcheinander geredet, ganz wirr, sie haben sicher nichts<br />

verstanden.“ Ich sage:“ Frau G., sie haben ihre Geschichte wunderbar erzählt und<br />

ich habe sie sehr gut verstanden.“<br />

In der darauffolgenden Woche denke ich immer wieder an Frau G. Ich glaube,<br />

daß sie noch nie jemanden ihre Lebensgeschichte erzählt hat und ich denke, daß,<br />

wenn sie mir ihre ganze Geschichte erzählt hat, von der Herzneurose befreit ist.<br />

3. Stunde.<br />

Meine Annahme bestätigt sich. Sie hat bis dato keinem Menschen ihre Geschichte<br />

erzählt. Ihre Mutter sage immer, sie solle nicht in der Vergangenheit leben, jetzt sei<br />

sie Österreicherin und der Rest interessiere niemanden.<br />

In den darauffolgenden Stunden erzählt Frau G. weiter. Sie erzählt uns ihren<br />

eigenen Mythos, das, was wahr ist. Durch das Erzählen stellt sie den Kontakt her<br />

mit ihrer heilen Zeit. Heute verstehe ich, warum mir diese Stunden als heilig<br />

erschienen. Das, was wahr ist, ist auch heilig. Ihre Puppen werden zum Symbol für<br />

diese heile Zeit und sie sind Zeugen. Wenn sie sie in den Armen hält, dann weiß sie,<br />

daß es wahr ist, denn sie waren dabei, sie können es bezeugen. Indem sie bei mir<br />

durch ihre Erzählung Kontakt zu dieser Zeit herstellt, werde auch ich <strong>zur</strong> Zeugin,<br />

die weiß, daß es wahr ist, was war. Wir, meine Klientin Frau G., ihre Puppen und<br />

ich haben eines gemeinsam: wir kennen die „heilige Zeit“, die Zeit, bevor es<br />

geschah, die Zeit, in der sich das Paradies der Frau G. befand.<br />

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