wiener beiträge zur musiktherapie band 3 theorie ... - Praesens Verlag
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HILDEMARIE STREICH<br />
ne Wasser waren versiegt. „Steige hinunter und grabe ihn frei“, sagte jemand. Da<br />
begann ich, Stufe um Stufe mich in die Tiefe zu lassen, und schliesslich war ich unten.<br />
Dort herrschte abgründige Finsternis. Von oben kam nur spärliches Licht. Ich<br />
sah es: Dieser Brunnen war unendlich tief im Bauch der Erde vergraben. Da hörte<br />
ich auf einmal ein Singen. Das war, als sänge die Erde selbst aus ihren letzten Tiefen.<br />
Ich dachte: „Kein Mensch singt so. Vielleicht könnte ein Tier so singen. Wo<br />
aber tönen Tiere so wie dieses hier“. Dieser Klang war voller Schönheit wie ein<br />
Einklang von Mensch und Tier, von Höhe und Tiefe zugleich, und ich folgte ihm<br />
wie die Bienen dem Dufte der Blüten. Es war Nacht hier unten. Die Finsternis<br />
dampfte vor Abgrund und Schwärze. Sie war wie ein nächtliches, grosses Tier. Nur<br />
der Klang der singenden Stimme rief und lockte aus der Ferne. Langsam näherte ich<br />
mich dem Tönen. Dieser Zaubergesang atmete die Fülle von Himmel und Erde und<br />
vereinte in sich die Liebe und Schönheit alles Geschaffenen. Es war wie das Aufseufzen<br />
der Kreaturen in Lust und Schmerz und wie der Jubel der Menschenkinder<br />
bei Tanz und Spiel.<br />
Als ich mich schon ganz nahe herangelauscht hatte, stiess ich auf eine grosse dicke<br />
Wand. Dahinter aber lebte und tönte das Singen. Hier war die Dunkelheit am<br />
dunkelsten. Es gab weder Tor noch Tür, nur dunkle, undurchdringliche Wand. Diese<br />
war aus mächtigem Urgestein, dazu feucht und glitschig. Auf einmal glitt ich aus<br />
und lag bäuchlings in einer Höhle am Fusse der Wand. Ich versuchte mich auf<strong>zur</strong>ichten,<br />
aber ich stiess mit dem Kopf oben an. Die Höhle war sehr niedrig. Gebückt<br />
schritt ich den Raum ab – und da – am Ende der Grotte eine Öffnung. Sie mündete<br />
in einen langen, flachen Gang. Ich musste kriechen, um hindurch zu gelangen. Dann<br />
plötzlich in der Ferne ein Lichtschimmer, dann eine Biegung des Höhlenganges,<br />
und der Weg ist frei. Ich kann aufrecht gehen und laufe auf ein grosses, warmes,<br />
rötliches Licht zu. Dieses Licht ist eines mit dem Zaubergesang, der immer wieder<br />
von neuem anhebt zu tönen und zu dem es mich mit allen Fasern meines Seins hinzieht.<br />
Endlich mündet der Weg ein in einen grossen runden Raum. Er ist gänzlich<br />
erfüllt von dem rötlichen, warmen Licht, das mich hierher geführt hat. Und in der<br />
Mitte des Raumes, dunkel und schön – voller Urkraft – ein singendes Pferd. Die<br />
Nüstern blähen sich feucht und gross, und das Maul – weit geöffneter – gebiert Ton<br />
um Ton. Der ganze Leib des Tieres glänzt in dunklem Braun. Es duftet wie frisch<br />
gepflügter Ackerboden im Frühjahr. Die Mähne und der Schwanz und die Hufe<br />
leuchten wie pures Gold, und die Augen sind Bergseen gleich, gross und blauschwarz.<br />
„Komm näher“, singt das Tier, „und fürchte dich nicht“, und es tönt und tönt.<br />
Zögernd gehe ich in die Mitte des Raumes. Ich lege meine Hand auf das Fell. Es ist<br />
weich wie Seide, warm und ein wenig feucht. Ganz vertraut ist es mir auf einmal.<br />
„Lege deinen Kopf auf meinen Hals, und ruhe aus von der Wanderung“, singt das<br />
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