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wiener beiträge zur musiktherapie band 3 theorie ... - Praesens Verlag

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DOROTHEA OBEREGELSBACHER / DOROTHEE STORZ<br />

verweilen, und wollte sie auf meine Weise erfassen, d.h. mir begreiflich machen,<br />

wodurch sie wirken.“ Und weiter: “Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe<br />

Tatsache aufmerksam geworden, daß gerade einige der großartigsten und<br />

überwältigendsten Kunstschöpfungen unserem Verständnis dunkel geblieben sind.<br />

Man bewundert sie, man fühlt sich von ihnen bezwungen, aber man weiß nicht zu<br />

sagen, was sie vorstellen.“ Und etwas weiter: „Ich weiß, daß es sich um kein bloß<br />

verständnismäßiges Erfassen handeln kann; es soll die Affektlage, die psychische<br />

Konstellation, welche beim Künstler die Triebkraft <strong>zur</strong> Schöpfung abgab, bei uns<br />

wieder hervorgerufen werden. Aber warum soll die Absicht des Künstlers nicht<br />

angebbar und in Worte zu fassen sein wie irgendeine andere Tatsache des seelischen<br />

Lebens?“ Freud ging davon aus, daß es möglich sei, ein Kunstwerk zu analysieren,<br />

zu deuten, „wenn es der auf uns wirksame Ausdruck der Absichten und Regungen<br />

des Künstlers ist“.<br />

Auch beim Verstehen einer musikalischen Improvisation gehen unsere<br />

therapeutische Neugier und Aufmerksamkeit über ein musikalisch intellektuelles<br />

Verstehen-Wollen weit hinaus; auch hier geht es darum, die Affektlage, die<br />

psychische Konstellation, die beim Improvisierenden 1 die Triebkraft <strong>zur</strong> Schöpfung<br />

abgab, zu begreifen und – wie Freud – beschäftigt auch uns die Frage, warum die<br />

Absicht des Improvisierenden nicht in Worte zu fassen sein soll wie irgendeine<br />

andere Tatsache des seelischen Lebens auch.<br />

Aber genau das ist bekanntermaßen schwierig, und zwar deshalb, weil wir uns<br />

damit in eine Welt begeben, die noch ohne Worte und Gedankengänge auskommen<br />

muß.<br />

Der individualpsychologische Theoretiker Tenbrink (2000) liefert uns genau dazu<br />

einige ganz interessante Gedanken: „Wenn wir davon ausgehen, daß die<br />

Symbolisierungsfähigkeit des Säuglings bzw. Kleinkindes erst im 2. Lebensjahr eine<br />

gewisse Effektivität erlangt und sich damit das Erleben grundlegend verändert<br />

(Stern 1986, Lichtenberg 1983), können wir ebenfalls davon ausgehen, daß in jedem<br />

Menschen – in der Zeit bis zu dieser Grenzlinie, die allerdings unscharf ist – ein<br />

schier unermeßliches Potential an Erleben auf der Grundlage präsymbolischer Modi<br />

der Erfahrungsbildung angesammelt und assimiliert wurde, das also keiner direkten<br />

oder unmittelbaren Symbolisierung unterworfen worden ist (Ogden 1989). Dieses<br />

präsymbolische oder ungedachte Wissen (Bollas 1987) bildet die unerschöpfliche<br />

dynamische Grundlage unseres Lebens und Erlebens bis zu unserem Tod.<br />

Gleichzeitig stellt sie eine lebenslange Anforderung an unsere sekundärprozeßhafte<br />

Verarbeitung, die unter anderem darin besteht, durch nachträgliche Symbolisierung<br />

1 Wegen besserer Lesbarkeit wird hier die männliche Form gewählt, die weibliche ist aber stets mitgemeint.<br />

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