wiener beiträge zur musiktherapie band 3 theorie ... - Praesens Verlag
wiener beiträge zur musiktherapie band 3 theorie ... - Praesens Verlag
wiener beiträge zur musiktherapie band 3 theorie ... - Praesens Verlag
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
In illo tempore<br />
Mehrperspektivität. Das Übereinander von einzelnen Instrumenten auf der Y-Achse<br />
wird strukturiert durch eine gemeinsame Zeiterfahrung, derer sich alle Spieler<br />
unterwerfen. Diese ist auf der X-Achse notiert und die Hilfseinheit heißt Takt. Der<br />
Dirigent hat u.a. die Aufgabe des Zeitwächters, er muß Sorge dafür tragen, daß<br />
keiner „wegläuft“ oder „hinterherhinkt“.<br />
So ist der Musiker gewohnt, auf zwei Ebenen zu denken. Auf der Ebene der<br />
Kontiguität (im Sinne von zeitlichem Ineinanderfließen) und gleichzeitig auf der<br />
Ebene der Kontinuität(im Sinne von gleichmäßigem Fortgang).<br />
„Wir müssen ihn (den Mythos, Anm. der Autorin) stattdessen als ein Ganzes<br />
begreifen und gewahr werden, daß die eigentliche Bedeutung des Mythos nicht<br />
durch die Abfolge der Ereignisse, sondern (...) durch Ereignisbündel vermittelt wird,<br />
auch wenn diese Ereignisse an unterschiedlichen Stellen der Erzählung<br />
auftreten. (Hervorhebung durch die Autorin) Deshalb müssen wir den Mythos<br />
mehr oder weniger wie eine Orchesterpartitur lesen, nicht Notenlinie für Notenlinie,<br />
sondern in dem Bewußtsein, daß wir die ganze Seite zu erfassen haben und<br />
verstehen müssen, daß das, was in der ersten Notenlinie oben auf der Seite steht,<br />
nur dadurch seine Bedeutung erhält, daß wir es als wesentlichen Bestandteil dessen<br />
begreifen, was weiter unten auf der zweiten Notenlinie, der dritten Notenlinie und<br />
so fort steht. Wir (....) müssen gleichzeitig vertikal, von oben nach unten, lesen. Wir<br />
müssen begreifen, daß jede Seite ein Ganzes ist.“ (Lévi-Strauss, 1996, S.58).<br />
Die Aspekte von Kontiguität und Kontinuität, das gleichzeitige Erfassen beider<br />
Ebenen gehört zum professionellen Handwerk eines Dirigenten, und, so ließen sich<br />
weitere Parallelen finden, auch zum Handwerk des Psychotherapeuten.<br />
Hier ist noch ein weiterer Aspekt anzuführen. Das Zueinander-in-Beziehungsetzen<br />
einzelner Motive und Themen. Das Thema ist nur dann ein Thema, wenn es<br />
vom Zuhörenden (oder Interpreten) als ein solches erkannt wird und sein Weiteroder<br />
Wiedererklingen an anderer Stelle wahrgenommen wird. Eine Variation ist erst<br />
dann eine Variation, wenn die diversen Veränderungen in Bezogenheit zum Motiv<br />
gehört werden.<br />
„Man kann zum Beispiel das musikalische Prinzip von Thema und Variationen<br />
nur dann wahrnehmen und fühlen, wenn man sich bei jeder Variation an das zuvor<br />
gehörte Thema erinnern kann.(...) So findet im Geiste desjenigen, der Musik hört,<br />
sowie desjenigen, der einer mythischen Erzählung zuhört, eine ununterbrochene<br />
Rekonstruktion statt“ (Lévi-Strauss, 1996, S.62).<br />
Das Lebensthema des Patienten wird erst dann als Lebensthema begreifbar,<br />
wenn es in seinen verschiedensten Variationen erkannt wird - eine Aufgabe des<br />
Psychotherapeuten, die der des Dirigenten nicht unähnlich ist. Lévi-Strauss geht in<br />
151