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wiener beiträge zur musiktherapie band 3 theorie ... - Praesens Verlag

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In illo tempore<br />

Schaffen. Ich möchte den Begriff der „Partitur“ als ein weiteres Verbindungsglied<br />

erläutern.<br />

Im Rahmen einiger psychotherapeutischer sowie musiktherapeutischer<br />

Ausbildungen ist es üblich, den zukünftigen AusbildungskandidatInnen während<br />

des Aufnahmeprocedere ein Lebenspanorama zeichnen zu lassen. Nach einer<br />

Einstimmung bekommen die zu Prüfenden eine Auswahl an Malutensilien. Die<br />

Aufgabe besteht darin, das eigene Leben bis dato zu reflektieren und in<br />

zeichnerischer Form zu Papier zu bringen. Dieser Vorgang ist mit dem Schreiben<br />

einer Partitur vergleichbar: das gleichzeitige Hören verschiedenster<br />

Instrumentalstimmen mit dem „inneren Ohr“ beim Komponieren ähnelt dem<br />

gleichzeitigen Erleben verschiedenster Lebensereignisse, aus denen sich dann die<br />

einzelnen Lebensmotive herausbilden. Aus den Lebensmotiven entwickelt sich eine<br />

Lebensgestalt, eine Lebensmelodie. Selbstverständlich ist dies nicht immer in der<br />

Weise möglich. Dargestellte einzelne Ereignisse können eher Inseln gleichen, denen<br />

jede Art von Verbindung fehlt. Wenn auch in der verbalen Aufarbeitung die<br />

Ereignisse „beziehungslos“ bleiben, so haben wir es hier schon eher mit einem<br />

diagnostischen Material zu tun.<br />

Was dem Komponisten in seinem inneren Ohr erklingt, durchlebt der zukünftige<br />

Psycho- oder Musiktherapeut ebenfalls sinnlich. Beim Zeichnen des<br />

Lebenspanoramas läuft der Film des Lebens vor dem inneren Auge ab. Der<br />

Prozess des Verdichtens nimmt seinen Lauf: zunächst sind es scheinbare solitäre<br />

Ereignisse, welche beginnen, sich zu Motiven zu bündeln, Lebensthemen heben sich<br />

von einem Hintergrund ab und die gebündelten Lebensthemen fädeln sich auf der<br />

Lebenslinie auf. Der Vorgang des Schaffens einer (Lebens-)Partitur ist beendet.<br />

Vor dem Verfasser liegt sein Werk: gebündelt, verknappt und herausgefiltert aus<br />

einer ins Unendlich strebenden Anzahl von gelebten Momenten (oder gehörten<br />

Tönen). Die beim Erschaffen durchlebten sinnlichen Empfindungen sind in ihrer<br />

Komplexität mit jenen eines Künstlers zu vergleichen. Das Werk wird zu einem<br />

Fenster in sein Zeitkontinuum und ermöglicht, getrennt Existierendes in der<br />

Gleichzeitigkeit zu erleben.<br />

Ein ähnliches Verfahren benutze ich während der Schlußphase der<br />

Lehrtherapien. Die StudentInnen werden von mir in der ersten Sitzung gebeten, ein<br />

Therapietagebuch zu führen. Dessen Umfang kann unterschiedlich sein, vom<br />

detailgetreuen Wiedergeben der Sitzung bis zu einem Wort, welches der Sitzung<br />

einen Titel geben soll. Die letzten Sitzungen sind - nachdem der therapeutische<br />

Prozess beendet wurde - ganz dem Therapiepanorama gewidmet. Ich wähle dafür<br />

einen Zeitraum von 6 Wochen. Wir sammeln gemeinsam die Ereignisse der<br />

vergangenen drei Jahre und tragen sie in einer Art Partitur ein. Ähnlich den<br />

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