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Die Islamische Revolution in Iran als Gegenstand der Politischen ...

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4. Diskurse <strong>der</strong> <strong>Politischen</strong> Bildung im Kontext <strong>der</strong> Ereignisse <strong>in</strong> <strong>Iran</strong><br />

2. die religiöse Gefolgschaft (taqlid), zu <strong>der</strong> je<strong>der</strong> shi‘itische Laie e<strong>in</strong>em Mojtahed (e<strong>in</strong>em Geistlichen, <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> religiösen Fällen e<strong>in</strong>e Entscheidung treffen kann) gegenüber verpflichtet ist und die durch Akhunds<br />

bzw. Mollas vermittelt wird (siehe Algar: 1969, 1-25; Lambton: 1964; Ende: 1980); 478<br />

3. die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er Klientelgruppe.<br />

4. Zu diesen drei Elementen, die die Organisation <strong>der</strong> Aufzüge bestimmen, kommen dann noch die<br />

Verwandtschaft, die viel zu selbstverständlich ist, <strong>als</strong> dass sie beson<strong>der</strong>s betont werden müßte, und<br />

schließlich<br />

5. die Handwerkskorporationen, die wohl vor allem die Masse <strong>der</strong> Teilnehmer gestellt haben.“ 479 (Kippenberg<br />

1981)<br />

<strong>Die</strong> Komplexität dieser Sozialbeziehungen, die auf dem Lande noch ergänzt werden müsste durch die ebenfalls <strong>in</strong><br />

vielen Fällen Une<strong>in</strong>heitlichkeit und Fragmentierung <strong>der</strong> feudalen Besitzverhältnisse, bei denen Bodenbesitz,<br />

Wasserrechte und Klientelbezüge zu den »sozial führenden Familien« <strong>in</strong> regional sehr unterschiedlicher Weise auf<br />

verschiedene Familien und Personen verteilt se<strong>in</strong> können, persönliche Abhängigkeiten oft nicht e<strong>in</strong>deutig def<strong>in</strong>iert,<br />

aber dennoch nichts desto weniger wirksam und <strong>in</strong> traditionaler Wertb<strong>in</strong>dung verankert s<strong>in</strong>d, evoziert die Frage nach<br />

den Wertkategorien, die das Funktionieren dieser Gesellschaft ermöglichen und für die Menschen s<strong>in</strong>nvoll machen.<br />

In <strong>der</strong> europäischen Orientalistik herrschen dabei oft religionsbezogene Erklärungsansätze vor. Das impliziert<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> europäischen Sich die Auffassung, dass <strong>der</strong> Islam <strong>in</strong> gewisser Folgerichtigkeit das Handeln <strong>der</strong> Menschen<br />

bestimmt. Schon Kippenberg wehrt sich gerade auch im Kontext <strong>der</strong> Interpretation möglicher religiöser<br />

Motivationen politischen Verhaltens, wie <strong>der</strong> Revolten, die zur <strong>Islamische</strong>n <strong>Revolution</strong> führten, die e<strong>in</strong>e deutliche<br />

religiöse Symbolik öffentlich demonstrierten, <strong>in</strong> ihren Abläufen dennoch politisch-historische S<strong>in</strong>gularität aufwiesen,<br />

die e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Determ<strong>in</strong>ation aus e<strong>in</strong>em religiösen Verhaltensgebot nicht ermöglichen:<br />

„<strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> shi‘itischen Traditionen für das soziale Handeln wird daher e<strong>in</strong> Stück systematischer<br />

konzipiert werden müssen. Damit ist auch e<strong>in</strong> methodologisches Element im Spiel, das A. MacIntyre (1967) <strong>in</strong><br />

dem Aufsatz »A Mistake about Causality <strong>in</strong> Social Science« glänzend dargestellt hat. Er legt – me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens überzeugend – dar, dass das Verhältnis von »Glaube« (belief) und »Handeln« (action) nicht<br />

äußerlich und kont<strong>in</strong>gent ist. <strong>Die</strong> beiden Bereiche können nicht <strong>als</strong> separate D<strong>in</strong>ge angesehen werden, die <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Verhältnis <strong>der</strong> Kausalität zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen. Vielmehr s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong>nerlich und konzeptionell aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

bezogen. <strong>Die</strong> Erklärung von Handlungen kann folglich nicht dem Kausalitätsschema folgen, son<strong>der</strong>n muss<br />

sich auf die Wahl <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Handlung, das heißt des »belief«, stützen.“<br />

„... die Suche nach Antezedentien e<strong>in</strong>er Handlung bedeutet nicht die Suche nach e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>varianten kausalen<br />

Verb<strong>in</strong>dung, son<strong>der</strong>n die Suche nach vorhandenen Alternativen und die Frage, warum <strong>der</strong> Handelnde eher die<br />

e<strong>in</strong>e <strong>als</strong> die an<strong>der</strong>e aktualisiert hat. ... Will man e<strong>in</strong>e Wahl zwischen Alternativen erklären, so muss man<br />

klarmachen, was das Kriterium des Handelnden war, warum er eher von dem e<strong>in</strong>en <strong>als</strong> dem an<strong>der</strong>en Kriterium<br />

Gebrauch machte und warum <strong>der</strong> Gebrauch dieses Kriteriums denen rational erschien, die es <strong>in</strong> Anspruch<br />

genommen haben“ (MacIntyre: 1967, 6 1). Warum – so wäre die Frage <strong>in</strong> unserem Fall zu stellen – haben<br />

iranische Demonstranten ihr Handeln unter die Symbolik von Kerbala, <strong>der</strong> Stätte des Leidens von Imam<br />

Hoseyn, gestellt und nicht unter die Pragmatik politischer Losungen? Warum haben sie nicht die Beschreibungen<br />

<strong>der</strong> demokratischen und sozialistischen Opposition gewählt, son<strong>der</strong>n die des shi‘itischen Klerus?<br />

Hierauf ist bislang e<strong>in</strong>e Antwort nicht gefunden.“ (Kippenberg 1981.)<br />

Wir können die vielfältigen, differenzierten Aspekte dieses Ansatzes hier nicht weiter auffächern und weiterführen.<br />

Von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung ist jedoch für uns das Résumé, dass es <strong>in</strong>adäquat ist, religiöse Handlungsmotive für<br />

politische Ereignisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er determ<strong>in</strong>istischen Weise zu <strong>in</strong>terpretieren. Religiöse Motive und Symbole gehen <strong>in</strong> das<br />

Repertoire <strong>der</strong> Handlungsressourcen e<strong>in</strong>er <strong>Politischen</strong> Kultur e<strong>in</strong> und müssen jeweils aus <strong>der</strong> Situation heraus<br />

aktualisiert und dezidiert werden. Das Missverständnis, das <strong>in</strong> Europa weit verbreitet ist, bei <strong>der</strong> Interpretation des<br />

Verhaltens z.B. von Muslimen zunächst nach den »religiösen Geboten« o<strong>der</strong> den zu Grunde liegenden »Q’oran-<br />

Stellen« zu fragen, um e<strong>in</strong>en eigenen Verständnisrahmen entwickeln zu können, verkennt die Komplexität und<br />

soziale Interdependenz von Verhaltensmotivationen. 480<br />

478<br />

Literaturverweise von H.G.K.; vgl. Literaturverzeichnis dieser Arbeit. (Anm. G.V.).<br />

479<br />

<strong>Die</strong>s bezieht sich auf die traditionalen städtischen Gesellschaften <strong>Iran</strong>s – bei Kippenberg vor allem am Beispiel von Širaz<br />

entwickelt –, <strong>in</strong> denen die genannten ‘Ašura-Rituale e<strong>in</strong>e wesentliche Funktion <strong>der</strong> sozialen B<strong>in</strong>dung und Selbstvergewisserung<br />

e<strong>in</strong>nehmen. Auf diese Trauerprozessionen und Inszenierungen bezieht sich <strong>der</strong> Verweis auf die „Masse <strong>der</strong> Teilnehmer“.<br />

(Anm. G.V.)<br />

480<br />

Im Unterrichtszusammenhang wird <strong>der</strong> Politiklehrer oft mit diesen Phänomenen konfrontiert und hat dann die Aufgabe,<br />

die notwendige analytische Distanz und Differenzierungsfähigkeit gegenüber den Problemen zu entwickeln und zu vermitteln.<br />

Das kann sich auf die leidige Kopftuchfrage (vgl. Abschnitt 4.4.) beziehen, die e<strong>in</strong>erseits viel weniger religiös zu begründen<br />

ist, <strong>als</strong> allgeme<strong>in</strong> angenommen wird, son<strong>der</strong>n bestimmten kulturellen Verhaltensmustern und -symbolen folgt, und<br />

an<strong>der</strong>erseits im Kontext <strong>der</strong> sozialen Interdependenzen und <strong>in</strong>dividualbiographischen Handlungsvoraussetzungen wie jede<br />

Kleidungsnorm und je<strong>der</strong> Normverstoß höchst wi<strong>der</strong>sprüchliche symbolische Ausdrucks- und Selbst<strong>in</strong>szenierungsmöglichkeiten<br />

be<strong>in</strong>haltet; das kann sich auf die so genannten religiösen Speisevorschriften beziehen, die nun offensichtlich sehr<br />

alte Tabuisierungen tradieren und <strong>der</strong>en versuchte theologische Begründung ausschließlich ex post rechtfertigenden und<br />

rationalisierenden Charakter tragen (warum mag schließlich <strong>der</strong> Mitteleuropäer so ungern se<strong>in</strong>en Dackel braten?).<br />

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