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Die Islamische Revolution in Iran als Gegenstand der Politischen ...

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4. Diskurse <strong>der</strong> <strong>Politischen</strong> Bildung im Kontext <strong>der</strong> Ereignisse <strong>in</strong> <strong>Iran</strong><br />

sowohl noble <strong>als</strong> auch verachtenswürdige Arme. Zwar herrschte allgeme<strong>in</strong> die Auffassung, dass Geld und<br />

Eigentum e<strong>in</strong>en eher ver<strong>der</strong>blichen E<strong>in</strong>fluß auf ihre Besitzer haben. Zugleich jedoch war klar: Es gab so viele<br />

Formen <strong>der</strong> Armut und des Reichtums, wie es Menschen und Geme<strong>in</strong>schaften gab. ich nenne Gesellschaften,<br />

auf die dieser Befund zutrifft, »vernakulär«. <strong>in</strong> diesem Begriff steckt die late<strong>in</strong>ische Bezeichnung für alles,<br />

was zu Hause herangezogen, gewebt o<strong>der</strong> hergestellt ist – im Gegensatz zu dem, was man durch Tausch<br />

bekommt.“<br />

In <strong>der</strong> Industriegesellschaft hat sich auch hier e<strong>in</strong>e Wertentdifferenzierung vollzogen. Armut und Reichtum werden<br />

auf e<strong>in</strong>er Skala des »Lebensstandards« e<strong>in</strong>gruppiert, die dem skalierten Gesellschaftsbild des Funktionalismus<br />

entspricht. <strong>Die</strong>s ist das Ergebnis ganz spezifischer Zivilisationsprozesse, die – um die auf Elias zurückgehenden<br />

Vorstellungen sehr pauschal zu verkürzen – zu charakterisieren s<strong>in</strong>d durch den Doppelprozess <strong>der</strong> E<strong>in</strong>beziehung und<br />

»Homogenisierung« immer weiterer Schichten <strong>in</strong> die Zivilisationsstandards und Habitusformen zunächst des Hofes,<br />

dann <strong>der</strong> sich herausbildenden staatlichen Oberschichten, und an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> stark bewusstse<strong>in</strong>sprägenden<br />

Erkämpfung von Partizipations- und politischen Repräsentationsrechten durch die <strong>in</strong> diesem Prozess entstehenden<br />

»bürgerlichen Schichten«. Dadurch entwickelte sich auch die dem Mittelalter und den vor<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaften<br />

fremde Verknüpfung ethischer Wertzuschreibungen und des materiellen Sozi<strong>als</strong>tatus, <strong>der</strong>, im S<strong>in</strong>ne von<br />

Max Weber, durch die »protestantische Ethik« noch verstärkt wurde. Iwan Illich schil<strong>der</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Untersuchungen<br />

zum »Recht auf Geme<strong>in</strong>heit« sehr anschaulich die religiös wie machtpolitisch motivierte Erzw<strong>in</strong>gung des Arbeitsethos<br />

<strong>in</strong> Arbeitshäuser, Zwangsarbeiterschaft und letztlich dem neuen Arbeitsort Fabrik.<br />

Abhängige o<strong>der</strong> unternehmerische Arbeit ist nun erste gesellschaftliche Pflicht, und „Müßiggang ist aller<br />

Laster Anfang«. Armut, Arbeitslosigkeit, Misserfolg s<strong>in</strong>d letztlich selbst verschuldet, ethisch verwerflich und Ergebnis<br />

mangelnden Arbeitse<strong>in</strong>satzes. Der Arme wird zum sozial Ausgeschlossenen, um den sich höchstens noch<br />

christliche Caritas zu kümmern hat. Aus Armut wird Verelendung und e<strong>in</strong> beklagenswertes Schicksal.<br />

„<strong>Die</strong> Fortschrittsideologie war verbunden mit e<strong>in</strong>er radikalen Ablehnung je<strong>der</strong> vorbestimmten Ordnung und<br />

mit <strong>der</strong> Weigerung, Armut <strong>als</strong> e<strong>in</strong>e naturgegebene Zwangslage zu betrachten. <strong>Die</strong>se Ideologie behauptete, dass<br />

e<strong>in</strong>e Neuordnung <strong>der</strong> Gesellschaft nach den Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> Vernunft zu e<strong>in</strong>em neuen<br />

»Gesellschaftsvertrag« auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Gleichheit führen könnte. Dar<strong>in</strong> gäbe es für Armut ke<strong>in</strong>en Platz mehr.<br />

<strong>Die</strong>se Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag nährte zwei Annahmen: erstens, dass je<strong>der</strong> Mensch so viele<br />

Bedürfnisse an Gütern und <strong>Die</strong>nstleistungen hat, wie sich aus se<strong>in</strong>em legitimen Kampf um das zum Leben<br />

Nötige ergeben mögen – theoretisch ist die Menge, die sich auf diese Weise ergibt, unbegrenzt groß; zweitens,<br />

dass es die Aufgabe <strong>der</strong> Wirtschaft ist, die Menschen mit den nötigen Ressourcen, <strong>als</strong>o Zahlungsmitteln, zu<br />

versehen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen.“ (Rahnena 1995.)<br />

Wenn wir die Armut und die Soziale Ungleichheit <strong>in</strong> vor<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaften betrachten, ist es notwendig,<br />

nicht nur die unterschiedlichen materiellen und sozi<strong>als</strong>trukturellen Voraussetzungen zur Kenntnis zu nehmen,<br />

son<strong>der</strong>n vor allem die Unterschiede <strong>in</strong> den Bewusstse<strong>in</strong>slagen und Wertvorstellungen zu berücksichtigen, die<br />

wesentlich stärker und unmittelbarer Verhaltens bestimmend s<strong>in</strong>d <strong>als</strong> die ohneh<strong>in</strong> mehrdeutige »objektive materielle<br />

Lage«. In nahezu allen vor<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaften ist die entfremdete abhängige Arbeit das schlimmste<br />

vorstellbare Schicksal, es ist die eigentliche Armut, das Elend, 491 <strong>der</strong> <strong>in</strong> vielen Fällen die noble Armut des Bettlers<br />

durchaus vorzuziehen war. <strong>Die</strong>s ist nicht – wie es mo<strong>der</strong>ner westeuropäischer Blick oft fehl <strong>in</strong>terpretiert – Arbeitsscheu<br />

o<strong>der</strong> Arbeitsunfähigkeit, son<strong>der</strong>n das Gefühl, <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuartigen Zwangssituation »Fabrik« se<strong>in</strong>e menschliche<br />

Würde zu verlieren, vom Subjekt <strong>der</strong> Arbeit zum Objekt des Arbeitszwanges zu werden.<br />

Viele Misserfolge von Industrie orientierter Entwicklungspolitik nach europäischem Muster gehen auf das<br />

Unverständnis <strong>der</strong> Bevölkerung für den Zwang, Armut gegen Elend e<strong>in</strong>tauschen zu sollen, zurück. <strong>Die</strong> materielle<br />

Armut <strong>als</strong> isoliertes Sozialkriterium im heutigen europäischen und über die UNO globalisierten S<strong>in</strong>ne ist <strong>in</strong><br />

vor<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaften ke<strong>in</strong> bewusstes Charakteristikum <strong>der</strong> eigenen sozialen Lage. Claude Lévi-Strauss<br />

machte das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bekannten Aussage deutlich: E<strong>in</strong> Jakute <strong>in</strong> den Steppen Sibiriens weigert sich immer noch zu<br />

glauben, dass irgendwo auf <strong>der</strong> Welt Menschen an Hunger sterben könnten, wenn es doch so leicht ist, zu e<strong>in</strong>em<br />

Nachbarn zu gehen und das Mahl mit ihm zu teilen. Rahnena verdeutlicht den Zusammenhang noch, <strong>in</strong>dem er<br />

betont, dass es e<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Wandel <strong>der</strong> Verursachung von Armut parallel zum Wandel <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Strukturen <strong>der</strong> Ökonomie gegeben hat, die sich im gewandelten Armutsbewusstse<strong>in</strong> spiegeln:<br />

„In früheren, vorkapitalistischen Gesellschaften waren Armut und Elend, <strong>in</strong> welcher Form sie sich auch immer<br />

zeigten, selten strukturell bed<strong>in</strong>gt. Sie waren Tatsachen des Lebens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das Leben an<strong>der</strong>s<br />

wahrgenommen wurde: viele Menschen mussten hart arbeiten o<strong>der</strong> leiden, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen;<br />

doch es galt <strong>als</strong> unmoralisch und s<strong>in</strong>nlos, Bedürfnisse zu erzeugen, die nicht befriedigt werden konnten. Und<br />

da niemand behauptete, dass die Wirtschaft letztlich das, was Gott an den Armen getan hatte, ungeschehen<br />

machen könnte, war die Gesellschaft <strong>als</strong> ganze so organisiert, dass die am wenigsten Privilegierten auf e<strong>in</strong>e<br />

»moralische Ökonomie« zurückgreifen konnten. <strong>Die</strong>se war auf e<strong>in</strong>em komplizierten System menschlicher<br />

Solidaritätsbeziehungen aufgebaut.“ (Rahnena 1995.)<br />

<strong>Die</strong> heutige Industrialisierung <strong>der</strong> semiperipheren Regionen erzeugt nun das, was wir im Zusammenhang mit den<br />

Ergebnissen <strong>der</strong> »Weißen <strong>Revolution</strong>« im folgenden Abschnitt noch ausführlicher für <strong>Iran</strong> untersuchen werden: die<br />

491<br />

Man denke hier an Ortsnamen von Fabrik- und Bergwerksorten aus <strong>der</strong> früh<strong>in</strong>dustriellen Phase, wie dem Bergwerksort<br />

»Elend« im Harz.<br />

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