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"...mein Acker ist die Zeit", Aufsätze zur Umweltgeschichte - Oapen

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wir den Sperling vermissen, beziehen wir uns dann (heimlich) auf Abundanzen des<br />

18. und des 19. Jh.? Ist uns dabei <strong>die</strong> damalige Ursache seiner relativen Häufigkeit<br />

bewusst? Und wie viele Sperlinge hätten wir denn heute gern? Denn <strong>die</strong> Angabe<br />

<strong>die</strong>ser Zahl wäre nichts anderes als <strong>die</strong> Angabe dessen, was wir als vorwissenschaftliche<br />

Setzung der nach unserer Auffassung „natürlichen“ Häufigkeit des<br />

Sperlings unterstellen.<br />

Solche Fragen werden in der Biodiversitätsdebatte nicht gestellt. Wilsons Buch<br />

(1992) „Ende der biologischen Vielfalt?“ <strong>ist</strong> ein Musterbeispiel für ah<strong>ist</strong>orische<br />

Abhandlungen des Problems. Trotz aller Forderungen z. B. des WBGU (1999) und<br />

des Sachverständigenrates für Umweltfragen nach H<strong>ist</strong>orisierung von Umweltproblemen,<br />

fallen solche Arbeiten wie <strong>die</strong>, aus der ich unten berichte, dem Verdikt<br />

der sozioökonomischen Ausrichtung zum Opfer, wenn sie denn überhaupt <strong>zur</strong><br />

Durchführung gelangen. Der Förderschwerpunkt BIOLOG konnte sich z. B. trotz<br />

positiver Evaluation 2002 nicht entschließen, von sich aus eine Fortsetzung unseres<br />

Projektes in einer zweiten Förderphase zu empfehlen. Die „sozialökologische“<br />

Fokussierung des Schwerpunktes stünde dem entgegen. Da helfen dann auch keine<br />

positiven Einschätzungen etwa von UNEP oder etwa <strong>die</strong> Einzigartigkeit des Forschungsansatzes,<br />

der international auf großes Interesse stößt. Die in der Biodiversitätsforschung<br />

fehlende Prämierung von Vorhaben, <strong>die</strong> sich mit Wertefragen anstatt<br />

mit der Zahlenproduktion befassen, <strong>ist</strong> ein Beispiel für <strong>die</strong> Fehleinschätzung,<br />

nach der nur Maß und Zahl <strong>die</strong> Lebenswelt beschrieben und nach der eine Ökonomie<br />

ohne Wertevorstellungen auskäme. Auch Voraussetzungswissen hat ökonomische<br />

Bedeutung, wenn auch vielleicht mehr indirekte.<br />

Woher <strong>die</strong> Maßstäbe kommen, <strong>die</strong> sich am angeblich „Früheren“ orientieren,<br />

bleibt offen. Es <strong>ist</strong> ein<strong>zur</strong>äumen, dass Naturschutzmaßnahmen aus pragmatischen<br />

Gründen schon auf kurzzeitige Schwankungen, etwa der Größenordnung von 10,<br />

20, vielleicht 30 Jahren, reagieren können oder müssen. Für solche kurzen Zeiträume<br />

scheint es schon eher Bestandszählungen zu geben. Aber das Reagieren auf<br />

kurzfr<strong>ist</strong>ige Schwankungen ersetzt nicht <strong>die</strong> Notwendigkeit der Kenntnis von langzeitlichen<br />

Bestandsschwankungen (longue durée Phänomene), es macht ihre Kenntnis<br />

geradezu notwendig, um mit Kurzzeitreaktionen nicht <strong>die</strong> Tendenzen der<br />

Langzeitphänomene zu stören bzw. zu zerstören.<br />

Die Begründungen für Naturschutzmaßnahmen können allein deswegen keine<br />

größere zeitliche Tiefe haben, weil <strong>die</strong> h<strong>ist</strong>orischen Daten, auf <strong>die</strong> man sich angeblich<br />

bezieht, in der Regel nicht vorhanden, oder: nicht zugänglich, nicht erschlossen,<br />

nicht systematisiert, nicht aufgearbeitet und nicht ausgewertet sind. Dass sich<br />

jemand an <strong>die</strong> Erzählung seiner Großeltern erinnert, wonach es früher viel mehr<br />

Rotkehlchen gegeben habe, erfüllt nicht wirklich <strong>die</strong> Anforderungen an <strong>die</strong> Qualität<br />

eines h<strong>ist</strong>orischen Faktums. Wir wissen recht wenig und was wir zu wissen<br />

glauben, <strong>ist</strong> mehr der Kategorie vom para<strong>die</strong>sischen Mythos als der Kategorie der<br />

gesicherten Zahl zu<strong>zur</strong>echnen.

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