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"...mein Acker ist die Zeit", Aufsätze zur Umweltgeschichte - Oapen

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Offenbar fällt es allge<strong>mein</strong> grundsätzlich schwer, <strong>die</strong> Einsicht zu akzeptieren,<br />

dass <strong>die</strong> Umwelt allererst prozessual organisiert <strong>ist</strong>. Die Prozesse der Natur sind<br />

keine Dauerzustände, werden aber zume<strong>ist</strong> vom Menschen so wahrgenommen,<br />

weil <strong>die</strong> Rhythmik naturaler Großsysteme einer Zeitskala folgt, <strong>die</strong> jenseits der<br />

menschlichen Generationendauer liegt und damit jenseits der individuellen Erfahrbarkeit.<br />

Die Zahlen im Naturbestand können sich verändern, ohne dass es „gefährlich“<br />

für das Ökosystem <strong>ist</strong>. Dass Abnahme mit Verlust gleichgesetzt wird, <strong>ist</strong><br />

möglicherweise eine menschliche Verhaltenskonstante. Das wäre verständlich, weil<br />

der wirtschaftende Mensch auf sichere Ertragsaussicht angewiesen <strong>ist</strong> und deshalb<br />

<strong>die</strong> Deutung von Vorboten eines möglichen Mangels in seinem kulturellen Vorsorge-Verhalten<br />

institutionalisiert hat.<br />

Die L<strong>ist</strong>e der Tiere und Pflanzen, <strong>die</strong> in den vergangenen Jahrhunderten bei<br />

uns einen Rückgang der Individuenzahlen erlebt haben, scheint vergleichsweise<br />

beträchtlich. 169 Dabei scheint von vornherein festzustehen, dass es immer derselbe<br />

Mechanismus sei: der Mensch verdränge oder dezimiere den Bestand. L<strong>ist</strong>en für<br />

Artenzuwächse (Neophyten und Neozoen) nehmen sich dagegen offenbar bescheidener<br />

aus 170 und werden auch als Elemente einer „falschen Fauna“ gewöhnlich<br />

nicht als Zugewinn gerechnet. Unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten<br />

<strong>ist</strong> das ein falscher Purismus.<br />

Die Feststellung eines Verlustes wäre aber nur durch den Einsatz von Verrechnungskalkülen<br />

möglich. Deren Einheit könnte eigentlich nur das Genom eines<br />

Organismus sein, wobei dann den Genomen vermutlich je gleiches Gewicht zukommen<br />

müsste. 171 Am Ende würden dann vielleicht dem verlorenen Braunbärengenom<br />

5000 neue Mikrobenarten gegenüberstehen. Wie wäre dann eine Entscheidung<br />

über <strong>die</strong> Verlustklage zu führen?<br />

Eine Verlustklage müsste den Verlust auch hinsichtlich etwaiger Rückgänge bei<br />

den Bestandszahlen der Individuen führen. Eine solche Überlegung führt direkt zu<br />

Vorstellungen über eine „potentielle natürliche Häufigkeit“. Ein solcher Gedanke <strong>ist</strong> bis<br />

heute zumindest nicht ernsthaft konkretisiert worden. Weder in der Ökologie noch<br />

im Naturschutz ex<strong>ist</strong>ieren z.B. Karten oder andere Informationsme<strong>die</strong>n, aus denen<br />

<strong>die</strong> Abundanz von Tier- oder Pflanzenarten nach einer „potentiellen natürlichen<br />

Häufigkeit“ abzulesen wäre, äußerstenfalls als regionale Einzelstu<strong>die</strong>n für <strong>die</strong> eine<br />

oder andere Art. Dabei läge es doch nahe, auf <strong>die</strong> Aussage „Es gibt keine Maikäfer<br />

mehr“ mit der Frage „wo?“ zu reagieren. Und erst der Abgleich mit einer (noch zu<br />

169 einschlägige Angaben in den verschiedenen „Roten L<strong>ist</strong>en“. Allerdings fehlen jegliche Maßstäbe.<br />

Selbstverständlich lässt sich argumentieren, dass jeder Artenrückgang ein Verlust <strong>ist</strong>. Bedenklich <strong>ist</strong><br />

jedoch nicht ein Artenrückgang als solcher, sondern der gegenwärtige Umfang und <strong>die</strong> Geschwindigkeit<br />

des heutigen Rückgangs, <strong>die</strong> offenbar ohne h<strong>ist</strong>orische, vielleicht aber mit erdgeschichtlichen<br />

Parallelen sind.<br />

170 Ingo Kowarik, Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa, Stuttgart, 2003.<br />

171 zu <strong>die</strong>ser Frage vgl. Bernd Herrmann, H<strong>ist</strong>orische Humanökologie und Biodiversitätsforschung,<br />

in: Biodiversitätsforschung – Die Entschlüsselung der Artenvielfalt in Raum und Zeit, hg. von Stephan<br />

Robert Gradstein, Rainer Willmann, Georg Zizka, Stuttgart 2003, (Kleine Senckenberg-Reihe<br />

45), S. 225–235, bes. S. 230.

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