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"...mein Acker ist die Zeit", Aufsätze zur Umweltgeschichte - Oapen

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Kartoffel, Tod und Teufel (2009)<br />

Im klinischen Sinne <strong>ist</strong> „Hunger“ keine Todesursache. Akute Todesursachen sind<br />

opportun<strong>ist</strong>ische Infektionserkrankungen oder Organversagen, <strong>die</strong> sich bei chronischer<br />

Unterernährung schnell infolge von Dystrophie und Schwächung des Immunsystems<br />

einstellen. Das typische Bild des Verhungernden <strong>ist</strong> geprägt von Auszehrung<br />

(Kachexie), von Untergewicht, verminderte Le<strong>ist</strong>ungsfähigkeit, Stoffwechselstörungen,<br />

Hautveränderungen, Infektanfälligkeit; Hungerödemen, mentaler<br />

Retar<strong>die</strong>rung, extremer Lethargie. Als das Leben begrenzender Faktor gilt bei akuten<br />

Hungerzuständen ein Gewichtsverlust von 40%, bei chronischem Hunger<br />

sollen größere Gewichtsverluste möglich sein. 628<br />

In den me<strong>ist</strong>en Europäischen Ländern hatte der Hunger 1845 und Folgejahre bei<br />

weitem nicht jene Konsequenzen, <strong>die</strong> in Irland auftraten. Dennoch waren <strong>die</strong><br />

Folgen auch auf dem Kontinent spürbar. Die Auswanderungsbewegung von Europa<br />

in <strong>die</strong> Neue Welt hat sicher von den Innovationen in der Transporttechnik<br />

und den politischen Verhältnissen profitiert, aber <strong>die</strong> ökonomischen standen gewiss<br />

mit in der ersten Reihe. Ökonomisch heißt hier, der Armut und auch damit<br />

verbundener Nahrungsknappheit zu entgegen.<br />

Die irische Katastrophe hatte aber im Kern soziale Gründe. Irland hätte trotz<br />

der Missernte zu essen gehabt, wie <strong>die</strong> jährlichen Schlachtviehexporte selbst während<br />

der Hungerkrise belegen (Tab. 5). 629 Aber Großbritannien, das Irland wie eine<br />

Kolonie ausplünderte, führte neben Tierprodukten auch weiter Getreide aus Irland<br />

aus und verbot Hilfslieferungen. Steuern wurden angehoben, Obdachlosigkeit<br />

nahm zu und örtlichen Hilfsaktionen setzten zu spät und in zu geringem Umfang<br />

ein.<br />

Die anschließende Hungerepidemie, der etwa eine Million von insgesamt acht<br />

Millionen Iren zum Opfer fiel und in deren Folge eine annähernd weitere Million<br />

nach Amerika auswanderte, beruht letztlich auf dem politischen Versagen der Britischen<br />

Regierung und der irischen Landlords. Die Irische Hungerkrise, <strong>die</strong> hinsichtlich<br />

politischer Ursachen und im Ausmaß nach heutigen Standards als zumindest<br />

genozidnah einzustufen <strong>ist</strong>, sollte jedoch nicht <strong>die</strong> letzte ihrer Art in Europa<br />

bleiben, bei der Menschen entweder durch Export, Raub oder Vorenthalten der<br />

von ihnen produzierten Nahrung zu Tode kamen. 630<br />

schweren Ernteausfällen nach dem Ausbruch des Tambora 1815 und ab 1830 mit der neuen Infektionskrankheit<br />

Cholera zu kämpfen. Bis 1845 endeten also alle drei Jugendgenerationen des Jh.s mit<br />

Naturkatastrophen. – Gleichzeitig <strong>ist</strong> Europa nach den Napoleonischen Kriegen für 50 Jahre kriegsfrei.<br />

628 Madea & Banaschek, S. 909<br />

629 Dass auch anderswo als in Irland zu <strong>die</strong>ser Zeit Hunger und soziale Probleme zusammenfielen, <strong>ist</strong><br />

von Virchow eindrücklich geschildert.<br />

630 Beispiele aus dem 20.Jahrhundert: Der Holodomor hat 1932 - 1933 in der Ukraine rund 3,5 Millionen<br />

Menschenleben gefordert, <strong>die</strong> deutsche Besetzung Griechenlands verursachte allein 1941-1942<br />

über 300.000 Hungertote; <strong>die</strong> Zahl der Hungertoten durch ethnische Säuberungen während des<br />

Balkankrieges 1991- 1995 <strong>ist</strong> nicht geschätzt.<br />

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