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"...mein Acker ist die Zeit", Aufsätze zur Umweltgeschichte - Oapen

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100 Me<strong>ist</strong>erwerke (2010)<br />

altypisch in Parzellen des American Bottom erhalten, 790 bevor <strong>die</strong> europäische<br />

Besiedlung <strong>die</strong> Landschaft veränderte.<br />

Walton Fords Bild schließt also suggestiv, so scheint es, an <strong>die</strong>ses Vorbild, an<br />

Vorstellungen vom Überfluss, an.<br />

II<br />

Tatsächlich <strong>ist</strong> <strong>die</strong>ser Anschluss ein scheinbarer. Sein Bild <strong>ist</strong> vielmehr in eine andere<br />

Deutungstradition zu stellen, in der <strong>die</strong> Taube als Opfervogel zu sehen <strong>ist</strong>, als<br />

Seelenvogel, als Todes- und Unglücksvogel. 791<br />

Auf dem Bild fällt vor dem Auge des Beobachters ein starker, viele Meter langer<br />

Ast unter dem Gewicht der Tiere zu Boden. Der Baum steht links außerhalb des<br />

Bildes und <strong>ist</strong> augenscheinlich schon länger abgestorben. Jedenfalls gibt es keinen<br />

Hinweis auf Laubgrün oder <strong>die</strong> für Grünholz typischen Auffaserungen der Bruchfläche,<br />

obwohl <strong>die</strong> Talaue <strong>die</strong> Farben und Formen der Vegetationsperiode zeigt.<br />

Ohnehin hätten <strong>die</strong> Tauben in der laubfreien Jahreszeit keine Nestlinge. Die zahllosen<br />

Vögel haben offenbar den Ast über seine Tragfähigkeit hinaus belastet. Die<br />

Tiere sitzen auf ihm, und zwar entgegen ihrer Natur und sogar entgegen der<br />

Schwerkraft auf seiner Unterseite. Sie zeigen soziales Verhalten, vitale Verdauungsreaktionen,<br />

sie paaren sich, sie legen Eier, brüten, füttern ihre Nestlinge, kurz, sie<br />

tun all das, was <strong>die</strong> als sozialen Brüter bekannten Wandertauben in ihren N<strong>ist</strong>quartieren<br />

und zu ihren Lebzeiten getan haben müssen. Dass sie nicht essen, <strong>ist</strong> verständlich,<br />

weil Schlaf- und N<strong>ist</strong>plätze nicht mit den Nahrungsplätzen zusammenfallen.<br />

Es <strong>ist</strong> bekannt, dass bei sozialen Brütern <strong>die</strong> hohe Individuenkonzentration<br />

in den N<strong>ist</strong>kolonien zu solchen Kotmengen führt, dass <strong>die</strong> N<strong>ist</strong>bäume in kurzer<br />

Zeit unter den Verdauungssekreten absterben. Insofern könnte der Ast innerhalb<br />

eines sich immer wiederholenden Szenariums zu Boden fallen.<br />

Ungewöhnlich überhöht erscheint indes <strong>die</strong> Besatzdichte, mit der Walton Ford<br />

aber ganz direkt auf <strong>die</strong> ehedem legendäre Individuenabundanz der Wandertaube<br />

hinwe<strong>ist</strong>. Selbst in Sozialverbänden schwärmende Vögel achten üblicher Weise auf<br />

<strong>die</strong> Einhaltung einer Individuald<strong>ist</strong>anz. Die Wandertaube scheint auf <strong>die</strong> Wahrung<br />

solcher Abstände keinen Wert gelegt zu haben, wenn denn <strong>die</strong> Augenzeugenberichte<br />

nicht maßlos übertrieben. Auf dem Ast wimmelt, flattert, lebt, kreischt und<br />

riecht es, und zwar weit über das Fassungsvermögen des Systems und über <strong>die</strong><br />

Vorstellungskraft des Betrachters hinaus. Der Ast, eigentlich verlässliche Heimstatt<br />

der Vögel, auf dem sie einem Teil ihrer biologischen Bestimmung gemäß lebten,<br />

bricht unter der Masse, eine Metapher für <strong>die</strong> unerhörte Fülle, <strong>die</strong> grenzenlose<br />

Zahl der Tauben. Am vom Betrachter abgewandten Astende fliegen <strong>die</strong> Vögel auf,<br />

790 Der “American Bottom” bezeichnet <strong>die</strong> Flußaue des Mississippi südlich seines Zusammenflusses<br />

mit dem Missouri zwischen dem Städtchen Alton und St. Louis. Die Region bildete in ihrem südlichen<br />

Abschnitt im 14. Jh. mit der Siedlung Cahokia, in der etwa 30.000 Menschen lebten, das größte<br />

Zentrum der nordamerikanischen Bevölkerung.<br />

791 Biedermann, S. 436 ff<br />

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