Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals ... - babbelClub
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183 In einer 1901 herausgegebenen<br />
Sammlung seiner russischen<br />
Aufsätze sagt Struve in<br />
der Einleitung: ›Im Jahre 1894,<br />
als der Verfasser seine ‚Kritischen<br />
Bemerkungen zur Frage der ökonomischen<br />
Entwicklung Rußlands’<br />
veröffentlichte, war er in der<br />
Philosophie kritischer Positivist,<br />
in der Soziologie und Natio nalökonomie<br />
ausgesprochener, wenn<br />
auch durchaus nicht orthodoxer<br />
Marxist. Seitdem haben sowohl<br />
der Positivismus wie der auf ihn<br />
gestützte (!) Marxismus aufgehört,<br />
für den Verfasser die ganze<br />
Wahrheit zu sein, haben aufgehört,<br />
seine Weltanschauung völlig<br />
zu bestimmen. Er sah sich genötigt,<br />
auf eigene Faust ein neues<br />
Gedankensystem zu suchen und<br />
auszuarbeiten. Der bösartige<br />
Dogmatismus, der Andersdenkende<br />
nicht nur widerlegt, sondern sie<br />
auch noch moralisch-psychologisch<br />
spioniert, erblickt in einer<br />
solchen Arbeit nur ‚epikureische<br />
Flatterhaftigkeit <strong>des</strong> Sinnes’. Er ist<br />
nicht imstande zu begreifen, daß<br />
das Recht der Kritik an sich eins<br />
der teuersten Rechte <strong>des</strong> lebendigen,<br />
denkenden Individuums<br />
ist. Auf dieses Recht gedenkt der<br />
Verfasser nicht zu verzichten, und<br />
sollte ihm auch ständig die Gefahr<br />
drohen, unter der Anklage der<br />
‚Unbeständigkeit’ zu stehen.‹ (Über<br />
verschiedene Themen, Petersburg<br />
1901)<br />
184 Siehe Bulgakow: l.c., S.252<br />
185 Tugan-Baranowski: Studien<br />
[zur Theorie und Geschichte der<br />
Handelskrisen in England], S.229<br />
haben. Es ist klar, daß, wenn man die schrankenlose <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
annimmt, man auch die schranken lose Lebensfähigkeit <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
be wiesen hat. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> ist die spezifi sch kapitalistische Methode der<br />
Erweiterung der Produktion, der Entwicklung der Produktivität der Arbeit, der<br />
Entfaltung der Produktivkräfte, <strong>des</strong> ökonomischen Fortschritts. Ist die kapitalistische<br />
Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der Produktivkräfte,<br />
den ökonomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie unüberwindlich.<br />
Der wichtigste objektive Pfeiler der wissenschaftlichen sozialistischen<br />
Th eorie bricht dann zusammen, die politische Aktion <strong>des</strong> Sozialismus,<br />
der Ideengehalt <strong>des</strong> proletarischen Klassenkampfes hört auf, ein Refl ex ökonomischer<br />
Vorgänge, der Sozialismus hört auf, eine historische Notwendigkeit zu<br />
sein. <strong>Die</strong> Beweisführung, die von der Möglichkeit <strong>des</strong> Kapitalismus ausging, landet<br />
bei der Unmöglichkeit <strong>des</strong> Sozialismus.<br />
<strong>Die</strong> drei russischen Marxisten waren sich <strong>des</strong> von ihnen im Gefecht vollzogenen<br />
Terrainwechsels wohl bewußt. Struve machte sich freilich über den<br />
Verlust <strong>des</strong> teuren Pfan<strong>des</strong> vor Jubel über die Kulturmission <strong>des</strong> Kapitalismus<br />
weiter keine Sorgen.¹⁸³ Bulgakow suchte das in die sozialistische Th eorie gerissene<br />
Leck notdürftig mit einem anderen Fetzen dieser Th eorie zu verstopfen:<br />
Er erhoff te, daß die kapitalistische Wirtschaft dennoch trotz ihres immanenten<br />
Gleichgewichts zwischen Produktion und Absatz zugrunde gehen müsse, und<br />
zwar an dem Fall der Profi trate. <strong>Die</strong>ser etwas nebelhafte Trost wird aber durch<br />
Bulgakow selbst zum Schluß vernichtet, wo er, auf die letzte Rettungsplanke, die<br />
er dem Sozialismus hingestreckt hatte, vergessend, plötzlich Tugan-Baranowski<br />
belehrt, daß der relative Fall der Profi trate für große Kapitale durch das absolute<br />
Wachstum <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> wettgemacht werde.¹⁸⁴<br />
Endlich Tugan-Baranowski, der konsequenteste von allen, reißt mit der<br />
derben Freude eines Naturburschen sämtliche objektive ökonomische Pfeiler der<br />
sozialistischen Th eorie nieder und baut die Welt in seinem Geiste ›schöner<br />
wieder auf‹ – auf dem Fundament der ›Ethik‹. ›Das Individuum protestiert<br />
gegen eine Wirtschaftsordnung, die den Zweck (den Menschen) in ein Mittel<br />
verwandelt und das Mittel (die Produktion) in einen Zweck.‹¹⁸⁵<br />
Wie dünn und fadenscheinig die neuen Begründungen <strong>des</strong> Sozialismus<br />
waren, haben alle drei genannten Marxisten an ihrer Person bewiesen, indem<br />
sie dem Sozialismus alsbald, kaum daß sie ihn neu begründet hatten, den<br />
Rücken kehrten. Während die Massen in Rußland mit Einsetzung ihres Lebens<br />
für die Ideale einer Gesellschaftsordnung kämpften, die dereinst den Zweck<br />
(den Menschen) über das Mittel (die Produktion) stellen soll, schlug sich ›das<br />
Individuum‹ in die Büsche und fand in Kant eine philosophische und ethische<br />
Beruhigung. <strong>Die</strong> ›legalen‹ russischen Marxisten endeten praktisch, wo ihre theoretische<br />
Position sie hinführte: im Lager der bürgerlichen ›Harmonien‹.<br />
210 Geschichtliche Darstellung <strong>des</strong> Problems