Matrilineare Gesellschaften - Institute for Advanced Studies
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Das Mutterrecht in der Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts 111<br />
eines damit gegebenen Rechts der Mutter und überhaupt einer günstigen<br />
Lage der Frau völlig auszuscheiden. Mutterrecht“ bedeutet ja, wie oben<br />
”<br />
analysiert, zunächst gar nichts weiter, als eine faktische Konsequenz des<br />
Vatermangels und als solches existiert es natürlich überall da, wo Kinder<br />
sind, die im Rechtssinn keinen Vater haben, der für sie sorgt und sie sich<br />
zurechnet, und wo diese Kinder dennoch nicht – was bei Kulturvölkern vorkommt<br />
– von jeder Familienzugehörigkeit, auch derjenigen zur mütterlichen<br />
Sippe, ausgeschlossen werden. Und Kinder in ähnlicher Lage, wie sich in der<br />
modernen Gesellschaft die unehelichen“ befinden, gibt es natürlich immer<br />
”<br />
und überall, bei den Australnegern so gut wie bei uns. Nur ist eben diese,<br />
aus dem Vatermangel entstehende, mutterseitige Verwandtschaftszurechnung<br />
keine allgemeine ursprünglichere“, der Vatergewalt vorangehende<br />
”<br />
” Entwicklungsstufe“, sondern bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der<br />
Völker von jeher Nebenerscheinung des herrschenden Patriarchalismus. 160<br />
Aus diesem wie auch aus dem folgenden Zitat aus Marianne Webers Werk entnehme<br />
ich mehrere Gesichtspunkte, wodurch sich die Autorin von den klassischen<br />
ethnologischen Evolutionisten abhebt und die auch bis heute weithin Gültigkeit<br />
besitzen:<br />
(1) Nach Marianne Weber stellt das ” Mutterrecht“ keine universale ” Kulturstufe“<br />
in der Entwicklung von <strong>Gesellschaften</strong> dar. Ihrer Auffassung nach läßt sich weder<br />
aus den historischen Quellen noch aus den ethnologischen Befunden – die ihr<br />
damals zur Verfügung standen –, überhaupt keine Gesellschafts<strong>for</strong>m identifizieren,<br />
in welcher es so etwas wie eine ” Gynaikokratie“, also Herrschaft der Frau im<br />
geschlechtsspezifischen Sinne gegeben hätte.<br />
(2) Marianne Weber erklärt das Vorkommen einer ” dominanten“ Stellung der<br />
Frau aus spezifischen sozialstrukturellen Konstellationen, die nur selten anzutreffen<br />
sind; am wichtigsten erscheint ihr dabei eine gewisse Abwesenheit der Männer<br />
im Sinne eines ” Vatermangels“ und damit verbunden der Abwesenheit der sonst<br />
üblichen ” Vatergewalt“, wobei auffällt, daß sie über die Ursachen des Fehlens<br />
derselben eigentlich nichts aussagt; Marianne Webers Hinweis auf ” uneheliche“<br />
Kinder halte ich jedenfalls für wenig überzeugend. Wie wir später sehen werden,<br />
gibt es genau dazu aus der neueren ethnologischen Forschung relativ gute empirische<br />
Grundlagen, welche exakt dieses Phänomen der ” Abwesenheit“ der Männer<br />
erklären können, nämlich über den Zusammenhang von Migration, uxorilokaler<br />
Residenz, ” externaler Kriegführung“ und matrilinearer Abstammung; ich komme<br />
darauf zurück.<br />
(3) ” Mutterrecht“ ist nach Marianne Weber nicht identisch mit ” Muttergewalt“ in<br />
einem gesellschaftstheoretischen Sinne, sondern ist weitgehend beschränkt auf (i)<br />
ein flexibles Ehe- und Scheidungsrecht (die Frau entscheidet selbst, wann ihre Ehe<br />
beendet ist), auf (ii) besondere Vorrangstellung der Frau bei der Erziehung der<br />
Kinder (bis zum Alter der Initiation) und auf (iii) eine gewisse Privilegierung der<br />
160 Marianne Weber 1989, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung, S.41–42.