Matrilineare Gesellschaften - Institute for Advanced Studies
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Theorien zur Entstehung unilinearer Abstammungsgruppen 131<br />
Nach Murdock ist der Mechanismus des Übergangs von der matrilinearen zur<br />
patrilinearen Deszendenz kaum ausreichend erklärbar, außer in Bezug auf den<br />
fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Systemen. Anhand der In<strong>for</strong>mationen<br />
über 224 <strong>Gesellschaften</strong> der Welt mit geschlechtlicher Arbeitsteilung<br />
versuchte Murdock die Ursachen für die mehrheitlich patrilineare Deszendenz zu<br />
erklären. Danach erfüllen Frauen bei mehr als 75 % der <strong>Gesellschaften</strong> folgende<br />
Tätigkeiten: Gartenbau, Getreideanbau, sammeln von Gemüse, Wurzeln, Wassertragen,<br />
vorbereiten und kochen von Fleisch, Fisch und vegetarischer Diät, herstellen<br />
und ausbessern der Bekleidung sowie von Matten und Körben, töpfern,<br />
weben. Diese Tätigkeiten werden vorwiegend im oder in der Nähe des Hauses<br />
erledigt. Deshalb hätten – so Murdock – die Frauen kaum ausreichende Kenntnisse<br />
ihrer nächsten Umgebung und schon gar nicht über das gesamte Jagdgebiet.<br />
Die Arbeiten der Männer hingegen sind bei mehr als 75 % der <strong>Gesellschaften</strong><br />
vorwiegend Viehbetreuung (84 %), Fischfang (86 %), Holzfällen (92 %), Fallenstellen<br />
(95 %), Bergbau und Steinbruch (mining and quarrying) (95 %), Jagen<br />
(98 %) und das Erlegen von Meeressäugern (99 %). Diese Tätigkeiten – wie auch<br />
Kriegführung – entfernen die Männer von ihren Wohnorten und führen dazu, daß<br />
sie hervorragende Umwelt- und Orientierungskenntnisse hätten, die für ihr Leben<br />
entscheidend seien. Bereits im Kindesalter werden Knaben für ihre späteren Aufgaben<br />
vorbereitet: sie lernen die Umwelt besser kennen und eignen sich technische<br />
Kenntnisse an, die sie später im Erwachsenenalter in der gewohnten Umgebung<br />
nützen können. 29 Mit anderen Worten, die Umweltkenntnisse der Männer seien<br />
ausschlaggebend für die Wahl der bevorzugten virilokalen Maritalresidenz.<br />
Von 25 matrilinearen und uxorilokalen <strong>Gesellschaften</strong> aus dem Sample von Murdock<br />
übersiedeln nur in drei Fällen die Männer zum Wohnort der Ehefrau: (1)<br />
die Dobunas, aber auch hier verbringt der Ehemann die Hälfte seiner Zeit im<br />
eigenen Dorf und nur die andere Hälfte mit seiner Frau; (2) die Vedda Ceylons;<br />
und (3) die Yarouro Venezuelas. Auffällig ist dabei, daß die beiden erst genannten<br />
<strong>Gesellschaften</strong> Migranten sind. Murdock erklärt den Vorgang der Migration<br />
folgendermaßen: Eine Gemeinschaft besteht aus mehreren Patri-Klans, besonders<br />
günstige Bedingungen führen zu einem Bevölkerungsanstieg und dieser wiederum<br />
führe zur Migration eines Teils der Bevölkerung, um in einer anderen Region<br />
eine neue Ansiedlung zu Gründen. Die Gruppe, die das ursprüngliche Siedlungsgebiet<br />
verläßt, folgt den üblichen Segmentierungstendenzen zwischen Abstammungsgruppen<br />
und gründet ein oder mehrere neue Segmente, d.h. nach dieser<br />
Abspaltung bilden beide – der Klan im ursprünglichen Dorf und derjenige, der ein<br />
Tochterdorf gegründet hat – eine unabhängige Gemeinschaftsgruppe. Daraus läßt<br />
sich erklären, warum von den 72 <strong>Gesellschaften</strong> mit Patri-Klans 45 Klangemeinschaften<br />
bilden im Gegensatz zu 27 <strong>Gesellschaften</strong>, die Klanschranken aufweisen.<br />
Dieser Teilungsprozeß würde bei Matri-Klans (matrilinearen und matrilokalen)<br />
völlig anders verlaufen, denn hier wäre die kleinste Einheit ” Zwei-Matri-Klans“<br />
und der Teilungsprozeß könnte nicht wirklich funktionieren. Diese <strong>Gesellschaften</strong><br />
29 Murdock 1949, Social Structure, S.213.