Matrilineare Gesellschaften - Institute for Advanced Studies
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Das Mutterrecht in der Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts 63<br />
Verehrung von Fruchtbarkeitsgöttinnen hat nichts mit Herrschaft, also mit einer<br />
hierarchisch stratifizierten Gesellschaft zu tun! Jäger- und Sammlergesellschaften<br />
haben niemanden, der eine Befehlsgewalt besitzt, weder vor 20.000 Jahren<br />
noch heute. Herrschaft ist nur möglich, wenn es hierarchische Machtstrukturen<br />
irgendwelcher Art gibt. Über wen oder was hätten Frauen herrschen sollen, über<br />
ihre Kinder vielleicht? Aber auch Kinder haben ihren eigenen Willen und wehren<br />
sich gegen aufgezwungene Regeln, spätestens in der Pubertät, wenn sie sich von<br />
der Kernfamilie zu lösen beginnen. Also wird es kaum möglich sein, daß Kinder<br />
vor 20.000 Jahren sobald sie aus der Abhängigkeit der Mutter entlassen wurden,<br />
nicht ihre eigenen Wege gegangen wären. Aber diese ” Herrschaftsbeziehung“<br />
von Müttern über ihre eigenen Kinder ist mit dem Begriff ” Mutterrecht“ oder<br />
später ” Matriarchat“ nicht gemeint. Mit diesen Begriffen wird in der Regel eine<br />
gesamtgesellschaftlich dominierende Stellung der Frau in erster Linie gegenüber<br />
Männern behauptet. Eine solche grundbegriffliche Strategie steht jedoch nicht im<br />
Einklang mit empirischen Befunden segmentärer <strong>Gesellschaften</strong> im allgemeinen<br />
und schon gar nicht mit den bisher bekannten Befunden zu Jäger- und Sammlergesellschaften.<br />
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es – zumindest<br />
in Wien – den Streit zwischen Archäologie und Ethnologie, welche der<br />
beiden Wissenschaften größere Bedeutung für die Rekonstruktion der Vergangenheit<br />
habe. Ausschlaggebend ist die Interpretation von archäologischen Funden:<br />
was sagen diese über frühere <strong>Gesellschaften</strong> aus? Richtig ist, daß eine nomadisierende<br />
Bevölkerung keine Dörfer oder Städte baut, deshalb können auch heute<br />
nur wenige materielle Dinge, wie kultische Gegenstände, Bestattungsbeigaben,<br />
Werkzeuge oder Waffen gefunden werden.<br />
Die Bücher von Heide Göttner-Abendroth gaben den Anstoß, daß sich drei<br />
Archäologinnen namens Brigitte Röder, Juliane Hummel und Brigitte Kunz 2 veranlaßt<br />
sahen, ein Buch mit dem Titel: ” Göttinnendämmerung. Das Matriarchat<br />
aus archäologischer Sicht“ (1996) zu verfassen. Sie stellten sich die Frage, ob das<br />
Matriarchat archäologisch nachweisbar wäre. Diese Frage wird in diesem Kapitel<br />
noch ausführlich diskutiert. Zunächst aber zu den Fragestellungen der klassischen<br />
Evolutionisten und ihren gesellschaftstheoretischen Annahmen über die Vergangenheit,<br />
und die Frage: warum gab es unter den klassischen Evolutionisten keine<br />
Frauen als Autorinnen?<br />
2 Brigitte Röder, Juliane Hummel und Brigitte Kunz (1996): Göttinnendämmerung. Das<br />
Matriarchat aus archäologischer Sicht, Droemer Knaur Verlag, München.