Matrilineare Gesellschaften - Institute for Advanced Studies
Matrilineare Gesellschaften - Institute for Advanced Studies
Matrilineare Gesellschaften - Institute for Advanced Studies
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Regionalgebiet Afrika: Der ” matrilineare Gürtel“ 204<br />
werden. Darunter ist die Aufeinanderfolge von bestimmten Zuständen zu verstehen,<br />
die ein Individuum während seines Lebens durchläuft; die Zeremonien<br />
symbolisieren dabei die Übergänge. Die Riten haben während der Übergangsphase<br />
die Aufgabe, das Individuum vor feindlichen Mächten zu schützen. Drei<br />
Hauptphasen können bei allen Übergangsriten unterschieden werden: (1) Trennung<br />
(séparation), (2) Übergang (marge) und (3) Inkorporation (agrégation). 64<br />
Van Gennep beschränkt sich nicht nur auf die Religion, sondern schließt die Natur,<br />
die Funktion des Symbolismus und die Beziehung zum sozialen und individuellen<br />
Verhalten ein. Er zählt zu den Rites de Passage alle periodischen Veränderungen<br />
im Zusammenhang von natürlichen Gegebenheiten, wie der Wechsel des Jahres,<br />
der Jahreszeit oder der Monatszahl. Danach enthält z.B. die Neujahreszeremonie:<br />
die Austreibung des Winters, die Übergangsphase und die Inkorporation des<br />
Frühlings, d.h. der Winter stirbt und der Frühling wird geboren. Van Genneps<br />
Theorie schließt sowohl Varianten des Volksglaubens als auch der Psychoanalyse<br />
ein. 65<br />
Victor Turner (1989) beschäftigte sich mit den von van Gennep beschriebenen<br />
Formen der Übergänge, den ” Riten, die einen Orts-, Zustands-, Positions- oder Altersgruppenwechsel<br />
begleiten.“ Das Individuum geht von der Trennungs-, über die<br />
Schwellen-, in die Eingliederungsphase über. Während der Trennungsphase setzt<br />
die Loslösung eines Individuums oder einer Gruppe von einem früheren fixierten<br />
Punkt einer Sozialstruktur und/oder gesellschaftlichen Bindung ein. In der anschließenden<br />
Schwellenphase ist das rituelle Subjekt (der ” Passierende“) von Ambiguität<br />
gekennzeichnet. Es wird ein Bereich durchschritten, der weder mit dem<br />
früheren noch mit dem zukünftigen in Verbindung steht. Mit der Angliederungsoder<br />
Wiedereingliederungsphase hat das rituelle Subjekt den Übergang vollzogen<br />
und befindet sich wieder in einem neuen stabilen Zustand. Durch die Anpassung<br />
an die traditionellen Normen erhält das Individuum eine neue Position innerhalb<br />
der Gesellschaft. Der Schwellenzustand ist besonders gefährlich, da sich das<br />
Schwellenwesen weder hier noch dort befindet, weder das eine noch das andere<br />
ist. Die Übergangsphasen werden fast überall durch Symbole ritualisiert, die diese<br />
Unbestimmtheit des Schwellenzustands zum Ausdruck bringen. 66<br />
Nach van Gennep ist jede größere Gesellschaft in getrennte soziale Gruppierungen<br />
untergliedert. Die Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmale sind dabei<br />
vielfältig und werden in jeder Gesellschaft durch soziale, religiöse, ökonomische,<br />
geschlechtliche und altersabhängige Faktoren bestimmt. Die individuellen<br />
Übergänge sind mit dem territorialen Überschreiten einer Staatsgrenze vergleichbar,<br />
z.B. werden in segmentären <strong>Gesellschaften</strong> geographische Zonen, z.B.<br />
Wüstengebiete, Sümpfe oder unberührte Wälder als neutrale Zonen bezeichnet,<br />
64 Solon T. Kimbal (1960): Introduction, in: Arnold van Gennep, The Rites of Passage, Übersetzung<br />
der Originalausgabe von 1909: Rites de Passage ins Englische von Monika B. Vizedom<br />
und Gabrielle L. Caffee; The University of Chicago Press, Chicago, S.vii.<br />
65 Kimbal 1960, Introduction, S.ix.<br />
66 Victor Turner (1989): Das Ritual. – Struktur und Anti-Struktur, Originalausgabe 1969,<br />
Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York, S.94–95.