Ukraina, Land und Volk ; eine gemeinfassliche Landeskunde

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derts schien es, als ob das letzte Stündlein der ukrainis
sehen Nation geschlagen hätte.
Es ist daher leicht erklärlich, daß im 19. Jahrhundert,
als die nationale Frage zu einer der wichtigsten Lebens?
fragen der Menschheit erwachsen ist, die beiden Nachbar*
nationen der Ukraina, die Polen und die Russen, die
„ukrainische Frage" gelöst zu haben glaubten.
Die Ansichten der Polen und der Russen stimmen
miteinander in einem vollkommen überein: „Es gibt keine
Ukraina, es gibt keine Ukrainer, es gibt nur Polen und
Rußland, nur eine polnische und eine russische Nation.'*
Diese vollkommene Übereinstimmung beider Natio?
nen, deren Riesenstaaten zwei Jahrhunderte lang um
die Vorherrschaft in Osteuropa gekämpft haben, ist
leicht verständlich. Die Ukraina ist seit jeher das an
Naturschätzen reichste Gebiet von Osteuropa, die
Ukrainer das zweitgrößte Volk, die ukrainische Frage
in einem jeden Staate, welcher Osteuropa beherrscht, die
wichtigste Lebensfrage. Nun war die ukrainische Nation
durch die halbtausendjährige Tatarennot und die ebenso
lange Knechtschaft vollkommen entkräftet. Es schien
also den mächtigen Nachbarnationen ein leichtes,
sogar
die Existenz der ukrainischen Nation zu leugnen, ihre
Entwicklung zu hemmen und sie langsam in der eigenen
Nation aufgehen zu lassen.
Die Polen haben nach Verlust der Selbständigkeit
ihres Vaterlandes heldenhafte Anstrengungen gemacht,
um mit bewaffneten Aufständen die Freiheit Polens wie*
der zu erkämpfen. Trotz aller Niederlagen haben sie
die Hoffnungen auf Wiederaufrichtung des polnischen
Reiches nicht aufgegeben. Aber diese Hoffnungen be*
schränkten sich
niemals auf das ethnographische Terri*
torium der polnischen Nation. Das künftige polnische
Reich sollte die alten Grenzen des historischen Polen*