Ukraina, Land und Volk ; eine gemeinfassliche Landeskunde

— 263 —
siver als in Rußland, Weißrußland oder Polen. In den
warmen Jahreszeiten lebt der Ukrainer viel außerhalb
des Hauses.
Bei Tag arbeitet er im Felde oder im Garten,
sogar in der Nacht schläft er gewöhnlich außerhalb der
Hütte, im Obstgarten oder Hof.
Wenn die Äcker vom
Dorfe entlegen sind, biwakiert ein großer Teil der Dorf*
bevölkerung zur Erntezeit einige Tage auf dem Felde.
Das sind alles südländische Merkmale des Lebens. Trotz
alledem sehen wir bei unserem Volke keine rechten
Eigenschaften des Südländers. Trotz alledem ist der
Ukrainer viel häuslicher als der Russe, viel sparsamer
und mäßiger, die „breite russische Natur" ist ihm voll*
kommen fremd. Wir haben schon gesehen, daß die Ukra*
iner keine fröhliche Eigenart haben, ebenso ist die Be*
weglichkeit des Gedankens bei ihnen kleiner als bei den
Nordländern: Russen oder Polen. Doch ist die Tiefe des
Gedankens größer und die Volksdichtungen des ukraini*
sehen Volkes sind unvergleichlich tiefer als diejenigen
des russischen oder polnischen. Das Träumerische und
Verschlossene im Charakter ist bei den Ukrainern, die
doch im Süden leben, größer als bei den Polen und Rus*
sen, die im Norden leben. Dies alles sind Folgen der
traurigen Vergangenheit. Nur in einem Punkte bewahr*
heiten die Ukrainer ihren südlichen Charakter: in ihren
bedeutenden Fähigkeiten und ihrer im allgemeinen großen
geistigen Begabung. Ein jeder vorurteilsloser Beobach*
ter muß zugeben, daß der ukrainische Bauer, dieser bei*
nahe einzige typische Repräsentant unserer Nation,
durch seine natürlichen Fähigkeiten alle seine Nachbarn
überragt.
Die Faulheit und Schwäche des Willens, welche den
südlichen Nationen im Vergleiche mit den nördlichen
eigentümlich sind, haben sich unter den Ukrainern auch
nicht typisch entwickelt.
Die häufig bedeutende Gleich*