Ukraina, Land und Volk ; eine gemeinfassliche Landeskunde

— 265 —
— alles dies spricht eher für große Energie als für Willens^!
schwäche. Es ist wohl wahr, daß bei unserem Volke,
welches durch jahrhundertelange Knechtschaft bedrückt
ist,
die Energie und Willenskraft sich unter einer dicken
Kruste von Gleichgültigkeit verbergen muß, und unsere
Gebildeten werden in ihrer Energie durch den schlechten
Einfluß der fremden Kulturen geschwächt. Aber die
angegebenen Umstände zeigen am besten, daß in der
ukrainischen Nation eine ungeheure Menge von Energie
und Willenskraft schlummert, die jedoch bisher nicht
gehörig
Es ist
ausgenützt worden ist.
bei Historikern und Anthropogeographen ein
viel gebrauchter Gemeinplatz, daß immer die nördlichen
Völker der betreffenden klimatischen Zone Staaten*
gründer sind und als
Eroberer auftreten, welche die süd*
liehen Völker unterjochen. Die Germanen haben das
römische Reich gestürzt, die Nordfranzosen das französi*
sehe gegründet, die Nordspanier das spanische, die Nord*
italiener das italienische, die Norddeutschen haben
Deutschland vereinigt. Es ist daher natürlich, daß man
diesen Gemeinplatz auch in Osteuropa anwendet. Die
„nördlichen" Russen haben die „südlichen" durch die
natürliche Notwendigkeit der Geschichte „vereinigt".
Dasselbe müßten die Ukrainer als Notwendigkeit hin?
nehmen und nichts dagegen tun.
Inzwischen ist dieser Gemeinplatz wie so viele andere
falsch. Die Ukrainer haben gegenüber den Russen, wie
wir schon gesehen haben, keine solchen Eigenschaften,
welche gewöhnlich ein südliches Volk seinem nördlichen
Nachbar gegenüber besitzt. Es ist wahr, der russische
Staat beherrscht heute die Ukraina. Aber der heutige
russische Staat ist doch nur ein Zweig des alten ukras
inischen Kyjiwer Reiches. Das alte ukrainische Reich
hat das heutige russische Territorium unterjocht, Staate