TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
det, nicht nach einer direkten Gegenleistung fragt, und auf der anderen Seite<br />
die reziproke verpflichtende Verflechtung, die die prinzipielle Form<br />
menschlicher Gesamtheit in der direkten Beziehung zwischen zwei Menschen<br />
reflektiert.<br />
In Anlehnung an seine Interpretationen des modernen Rechts begreift Derrida<br />
die Gleichbehandlung des Individuums rechtlich als Chancengleichheit,<br />
die die Freiheit des Individuums im rechtlichen Rahmen betrifft: einem jeden<br />
steht die gleiche, wenn auch begrenzte Freiheit zu. Sobald es aber um die<br />
Rechtsprechung geht, also um die Anwendung des Rechts, bezieht sich<br />
Derrida auf die „Idee einer Gerechtigkeit gegenüber der „Unendlichkeit“ des<br />
konkreten Anderen“ 125. Er verlässt damit auf der Ebene der Anwendung den<br />
Grundsatz der Gleichheit und spricht sich für eine individuelle Behandlung<br />
aus, die sich an der „Unendlichkeit“ des Anderen orientiert. Das bedeutet,<br />
dass das, was für die Kodifizierung auf der verallgemeinerten Ebene gilt, im<br />
konkreten Fall durch die normative Idee der besonderen Wahrnehmung des<br />
Anderen ergänzt werden muss. Diese Differenzierung von Derrida wird in<br />
ähnlicher Form bei Lévinas vorgenommen und geht auch auf diesen zurück.<br />
Lévinas ist trotz oder gerade wegen seiner starken Prägung durch seine<br />
Lehrer Heidegger und Husserl in eine Gegenposition zu der traditionellen<br />
Philosophie und ihrer ontologischen Orientierung getreten. Diese Gegenposition<br />
ist aber eine produktiv-dialektische, die nicht substituiert, sondern<br />
komplementiert. Das Komplement jedoch, das er in Beziehung zu der philosophischen<br />
Ontologie setzt, steht nicht gleichberechtigt neben ihr, sondern<br />
löst die Ontologie in ihrer Vormachtstellung ab. Es ist die Ethik, welcher der<br />
Vorzug gelassen wird, wenn es um die Deutung zwischenmenschlicher Begegnungen<br />
und deren Kommunikation untereinander geht. Lévinas findet<br />
seinen Ausgangspunkt dort, wo angenommen wird, dass jede intersubjektive<br />
Aktion, also das Verhältnis von Menschen zueinander an sich normativ<br />
interpretiert werden kann und muss. Das Normative ergibt sich aus der umfassenden<br />
Betrachtung der konkreten Situation, in der intersubjektiv gehandelt<br />
wird.<br />
Dieses „Erfahrungsfeld des Moralischen“ 126 wäre nur partiell beschrieben,<br />
würde man es bei den Deskriptionen bezüglich eines Grundsatzes der<br />
Gleichheit gegenüber dem verallgemeinerten Anderen bewenden lassen. Die<br />
125 Honneth (2000a: 159).<br />
126 Honneth (2000a: 157).<br />
215