TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Norm ergibt sich aus der Reflexion der Anwendung: Die moralische Erfahrung<br />
mit dem individuell Anderen vermittelt die Ahnung einer Unendlichkeit<br />
des Gegenübers. Gerade in dem sorgfältigen Erkennen der vielfältigen<br />
Verschiedenheit des Anderen liegt bereits der moralische Vollzug, der sich<br />
durch Reflexion, d. h. in diesem Fall: die Einordnung in ein gemeinschaftliches<br />
Ganzes (solidarische Gemeinschaft), zu einer Ethik entwickeln kann.<br />
Die Einordnung in ein innerweltliches Ganzes dagegen fordert ein adäquates<br />
Äquivalent zu der Unendlichkeit des Anderen; dieses Äquivalent kann nur<br />
in einer unendlichen Bezogenheit auf den Anderen in Form grenzenloser<br />
Fürsorge bestehen.<br />
Zu dem Grundsatz der Gleichbehandlung tritt also der Grundsatz der Fürsorge,<br />
der streng genommen der „traditionellen“ Gleichbehandlung entgegensteht.<br />
Welchem Grundsatz gefolgt werden soll, dies lässt Lévinas einen<br />
imaginären Dritten entscheiden, der die Grundsätze des modernen Rechts<br />
vertritt. Damit drängt das Moment der Gerechtigkeit in die Entscheidungssituation<br />
und kann nur eliminierend auf die Fürsorge wirken und somit die<br />
mühsam entwickelte Argumentation Lévinas zunichte machen. Aus diesem<br />
Grund entscheidet er sich, die Gerechtigkeit als etwas zu beschreiben, was<br />
„stets über die Gerechtigkeit selbst hinaustreibt“ 127. Dies ließe sich derart<br />
deuten, dass die Semantik der Gerechtigkeit in eine neue, in Bezug auf die<br />
Unendlichkeit: transzendentale Qualität überführt wird, in der zwar immer<br />
noch der Grundsatz der Gleichbehandlung wirkt, jedoch neben sich die<br />
asymmetrische <strong>St</strong>rukturcharakteristik der Fürsorge systematisch zu integrieren<br />
weiß. In der Spinnerschen Rationalitäten-Differenz gesprochen, wäre<br />
die Gleichbehandlung somit in der prinzipiellen Rationalität des modernen<br />
Rechts verankert, wohingegen die okkasionelle Rationalität im konkreten<br />
Einzelfall, im konkreten Anderen zum Zuge kommt. In ihrem Geltungscharakter<br />
mögen die Grundsätze differieren (prinzipiell vs. situativ), doch in<br />
ihrem Geltungsanspruch stehen sie in der Postmoderne als komplementäre<br />
Teile gleichberechtigt nebeneinander.<br />
Es ist unter anderem durch die Darstellung der Rendtorffschen Konzeption<br />
deutlich geworden, dass der inhaltliche Dialog nicht nur innerhalb der philosophischen<br />
Disziplin, sondern auch über deren Grenzen hinaus insbesondere<br />
mit der theologischen Disziplin geführt wird. Bei Fragen moralischer Be-<br />
127 Honneth (2000a: 163).<br />
216