TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
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66<br />
temps“). Man begreift, was es heißt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen<br />
(„gagner sa vie“), nämlich seine reale gegen potentielle Zeit zu tauschen. Man<br />
begreift die allgemeine Beschleunigung der Rhythmen, nicht nur bei der<br />
Arbeit, sondern auch beim Transport, beim Informationsfluß und im Alltagsleben.“<br />
145<br />
Hier wird deutlich, in welcher Weise die Zeit nicht nur „natürlich“ mit unserem<br />
Leben und unserer Lebenszeit zusammenhängt, sondern wie die Zeit<br />
vor dem Hintergrund des kapitalistischen Profitstrebens bzw. - neutral formuliert<br />
- vor dem Hintergrund der ökonomischen Umdeutung und Besetzung<br />
auch dieser Dimension aufgeladen wird. Die ökonomische Besetzung<br />
der Zeit lässt selbige nicht fortlaufend laufen, sondern rennen, rasen und<br />
nicht rasten. Nicht die „traditionelle“ physische Entgrenzung des Wirtschaftens,<br />
sondern die Grenzenlosigkeit der individuellen Eigentumsvermehrung,<br />
die Entgrenzung des „genug“ zum „je mehr, desto besser“ führt<br />
den Einzelnen unweigerlich dazu, die eigene zeitliche Kontingenz nicht zu<br />
akzeptieren und lebens-lang (!) dagegen anzukämpfen. Wulf bezeichnet dies<br />
als die „Konzentration auf den Gewinn an Zeit“. 146 Dieses Ankämpfen kann<br />
kompensiert werden, wenn die eigene zeitliche Kontingenz beherrscht wird.<br />
Dies führt nicht zu ihrer Auflösung, doch ist sie unter Kontrolle, so die<br />
postmoderne Interpretation.<br />
„(...) eine Moderne, die sich um die Beherrschung des Raumes drehte, geht<br />
damit allmählich über in eine Postmoderne, die von der Beherrschung der<br />
Zeit besessen ist.“ 147<br />
145 Lyotard (1985: 51).<br />
146 Wulf, C. (1987): Lebenszeit – Zeit zu leben? Chronokratie versus Pluralität der Zeiten,<br />
in: Kamper, D./Wulf, C. (Hrsg.), Die sterbende Zeit: 20 Diagnosen, Darmstadt/Neuwied,<br />
S. 266-275, hier S. 268. Ein breites Spektrum an Zeitdiagnosen, die sich unter<br />
anderem auch mit der Lebenszeit, mit dem Verhältnis des Einzelnen zu der ihm zur<br />
Verfügung stehenden Zeit beschäftigen, haben Kamper/Wulf (1987) zusammengetragen.<br />
„Bereits in der neuzeitlichen Leitidee des Fortschritts soll mit Hilfe des Fortschreitens<br />
der Mangel an Zeit kompensiert werden. Je schneller sich die Menschheit<br />
voranbewegt, desto mehr hofft sie, mit dem stark gewachsenen Zeitbedarf fertig zu<br />
werden. Während der Aufklärung gewinnt das Bewußtsein Raum, verspätet in die<br />
Welt einzutreten und daher sich eilen zu müssen, um die verlorene Zeit wieder gutzumachen.<br />
Die Beschleunigung der Zeit wird an die Verspätung der Vernunft und an<br />
ihren historischen Auftrag gebunden, den Menschen in eine bessere Welt zu führen.<br />
Der Zivilisationsprozeß erscheint als Mittel zu diesem Zweck, in dem die Zeit die entscheidende<br />
Rolle spielt. Konzentration auf den Gewinn an Zeit.“ (Wulf 1987: 268).<br />
147 Lyotard (1985: 51).