Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7560<br />
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unter sechs Jahren in den letzten Jahrzehnten<br />
stark angestiegen, und zwar weit stärker als die<br />
Zunahme an Kleinkind-Betreuungsplätzen.<br />
Wie behelfen sich die vielen erwerbstätigen<br />
Mütter im Hinblick auf die Betreuung ihrer<br />
Kinder während ihrer Abwesenheit?<br />
Aus den Zwischenergebnissen einer repräsentativen<br />
Untersuchung über die Form der Betreuung<br />
von Kleinkindern in der Bundesrepublik<br />
Deutschland ist zu entnehmen, daß die Vorstellung<br />
irreführend ist, daß das Primat der Familienerziehung<br />
für die Kleinkinder (das für die<br />
Bundesrepublik Deutschland gilt) auch immer<br />
Personenkontinuität in der Betreuung und<br />
Pflege bedeutet. So ist jedes dritte null- bis<br />
dreijährige Kind und mehr als die Hälfte der<br />
drei- bis sechsjährigen Kinder auf drei und mehr<br />
Betreuungsformen täglich angewiesen. Bei<br />
Inanspruchnahme von öffentlichen Kleinkind<br />
Betreuungsinstitutionen werden vor allem infolge<br />
der Öffnungszeiten der meisten von ihnen<br />
— darüber hinaus noch weitere Betreuungsformen<br />
in Anspruch genommen. Tietze schreibt:<br />
„An der Betreuung von Kindern im Vorschulalter<br />
sind eine beachtenswerte Zahl unterschiedlicher<br />
Instanzen beteiligt. Dies gilt nicht nur mit<br />
Bezug auf die Kinderpopulation als Ganzes,<br />
sondern trifft in vielen Fällen auch für das<br />
einzelne Kind zu. Bei einem nicht geringen<br />
Anteil der Kinder sind zahlreiche Wechsel der<br />
Betreuungsform während des Tages gegeben<br />
und verschiedenartige Betreuungsformen in<br />
einem komplizierten Zusammenspiel in den<br />
Tagesablauf integriert. Für die öffentliche und<br />
fachpolitische Diskussion bedeutet dies, daß wir<br />
endgültig Abschied nehmen müssen von der<br />
versimplifizierenden Alternative Familie (gemeint<br />
ist die Mutter) versus Institution. Solche<br />
Vereinfachungen haben keine Grundlage in der<br />
gesellschaftlichen Realität. Angemessene Lösungen<br />
der Betreuungsproblematik sollen Bezug<br />
nehmen auf die Vielfalt gegebener Betreuungsinstanzen<br />
und die Vielfalt der Lebensbedingungen<br />
von Kindern und ihren Eltern„<br />
(1990, S. 10).<br />
Aber auch für nichterwerbstätige Mütter stellt<br />
sich im Zuge der zumeist fehlenden Kinder<br />
Nachbarschaftsgruppe, die spontanes Spiel<br />
ermöglichte, das Problem, ihre Kinder überhaupt<br />
mit anderen Kindern in Kontakt zu bringen.<br />
Hinzu kommt für sie das Gefühl der Isolierung.<br />
Ein Indikator hierfür und gleichzeitig eine<br />
Veränderungschance für diese Situation ist die<br />
Zunahme der Entstehung von „Mütter-" bzw.<br />
„Familien"-Zentren (vgl. Kapitel VIII).<br />
Ein weiterer zeitgeschichtlicher Wandel im Kinderalltag<br />
kommt hinzu: Vornehmlich an die<br />
Mütter (erwerbstätig oder nicht) wird der<br />
Anspruch der frühen pädagogischen und<br />
gesundheitlichen Förderung ihrer Kinder gestellt,<br />
nicht nur im häuslichen Bereich, sondern<br />
auch durch den Besuch von Freizeitgruppen:<br />
Schwimm-, Mutter-Kind-Gymnastik- und Turn<br />
sowie Mal- und sonstige Kurse. Hierdurch müs<br />
sen die Kinder frühzeitig lernen, sich in unterschiedlichen<br />
Rollenkontexten kompetent und<br />
autonom zu verhalten. Zu vermuten ist, daß der<br />
Partizipationsgrad an derartigen Kursen mit der<br />
sozialen Schicht — vor allem auch mit dem<br />
Bildungsniveau der Mutter und dem Geschlecht<br />
des Kindes — korreliert; genauere Daten fehlen<br />
uns jedoch. Durch die zunehmende Pädagogisierung<br />
und die damit verbundene Institutionalisierung<br />
von Kindheit wurden ferner die Mütter<br />
nicht nur immer stärker zu „Transporteurinnen"<br />
ihrer Kinder, die sie von einer „Insel" zur<br />
anderen bringen (man spricht von der „Verinselung<br />
der Kindheit"), sondern sie haben auch die<br />
Probleme der Zeitorganisation für ihre Kinder<br />
zu lösen. Rabe-Kleberg und Zeiher (1984,<br />
S. 29ff.) haben belegt, wie seit Ende der 60er<br />
Jahre das Eindringen moderner Zeitorganisation<br />
(Regelhaftigkeit, Vorplanung, Zeitökonomie)<br />
in die Lebensbedingungen bereits von<br />
Kleinkindern erfolgte.<br />
Auf die Gefahren der zunehmenden Pädagogisierung<br />
von Kindheit — vor allem während der<br />
Kleinkinderphase — haben Erziehungswissenschaftler<br />
und -wissenschaftlerinnen immer wieder<br />
hingewiesen. So bedeutet die Pädagogisierung,<br />
die Institutionalisierung und die „ Verinselung<br />
von Kindheit", daß Kinder in relativ frühem<br />
Alter — je nach Aufgabenstellung — mit sehr<br />
unterschiedlichen Personengruppen zu tun haben,<br />
die keineswegs immer untereinander in<br />
Verbindung stehen. Die traditionelle ganzheitliche<br />
Erfahrung der Kinder wird ersetzt durch<br />
„die Erfahrung in Inseln verschiedener Aktivitäten<br />
und Personen" (Bertram/Borrmann-Müller<br />
1988, S. 14 ff.). Aber Kinder brauchen ganzheitliche<br />
Erfahrung und machen ihre Erfahrungen<br />
ganzheitlich (Liegle 1987, S. 34). Die<br />
Geschwister- und Nachbarschaftsgruppe bot<br />
ihnen diese Möglichkeit, indem sie hier nicht als<br />
„Rollenträger" — wie in den einzelnen Lerngruppen<br />
— galten. Die Auswirkungen dieser<br />
gesellschaftlichen Entwicklungen auf die Persönlichkeitsstrukturen<br />
bzw. Sozialcharaktere<br />
der Kinder sind wissenschaftlich bisher nicht zu<br />
diagnostizieren. Die Wirkungs- und Sozialisationsforschung<br />
hat dieses Thema empirisch<br />
überhaupt noch nicht aufgegriffen.<br />
Versucht man die zuvor beschriebenen einzelnen<br />
Veränderungsdimensionen zusammenzufassen,<br />
so wird ihre sich gegenseitig verstärkende<br />
Wirkung offenbar: Der Funktions- und<br />
Bedeutungswandel von Kindern sowie eine Einstellungsveränderung<br />
zur Elternrolle und die<br />
gestiegenen Leistungserwartungen an die Eltern<br />
(beide gerade auch seitens der Eltern<br />
selbst) sind mit ausschlaggebende Faktoren für<br />
die Reduktion der Kinderzahl in der Familie. Die<br />
geringere Kinderzahl wiederum ermöglicht es<br />
den Eltern aber überhaupt erst, den hohen<br />
Leistungsanforderungen gerecht zu werden,<br />
sowohl was die pädagogischen Erwartungen an<br />
die Elternrolle anbetrifft, als auch im Hinblick<br />
auf den Zeit- und Kostenaufwand, den Eltern für<br />
ihre Kinder heutzutage erbringen. Für die Fami-<br />
-<br />
Pädagogisierung<br />
von Kindheit