Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7560<br />
Wandel<br />
der vor<br />
herrschen<br />
den<br />
Krank<br />
heiten<br />
1.2 Familie als Belastung und Hilfe 2)<br />
Im Laufe dieses Jahrhunderts hat sich das Spektrum<br />
der vorherrschenden Krankheiten grundlegend<br />
verändert. Während zu Beginn des Jahrhunderts<br />
noch die Infektionskrankheiten dominierten,<br />
sind sie heute dank der medizinischen<br />
Fortschritte soweit unter Kontrolle, daß ihnen<br />
unter den Todesursachen nur noch eine untergeordnete<br />
Bedeutung zukommt. In den Vordergrund<br />
getreten sind statt dessen chronische<br />
Krankheiten, insbesondere Herz- und Kreislauferkrankungen<br />
sowie Krebs als häufigste Todesursachen.<br />
Aber auch unter den in der Regel<br />
nicht zum Tode führenden Erkrankungen nehmen<br />
die chronischen Krankheiten an Bedeutung<br />
zu, beispielsweise Erkrankungen der Wirbelsäule,<br />
Asthma, Allergien, rheumatische Erkrankungen,<br />
Depressionen usw. Soweit die<br />
Ursachen chronischer Erkrankungen aufgeklärt<br />
sind, deutet alles darauf hin, daß sie — unbeschadet<br />
unterschiedlicher genetischer Dispositionen<br />
— in der Regel nicht ohne langandauernde<br />
spezifische Belastungen auftreten, so daß<br />
die Erkrankung als Reaktion des Körpers auf<br />
diese Belastungen zu interpretieren ist. Normalerweise<br />
haben diese Belastungen ihren Ursprung<br />
in der Umwelt der Menschen und wirken<br />
entweder unmittelbar (z. B. Toxine, übermäßige<br />
Beanspruchungen von Muskeln und Skelett)<br />
oder vermittelt über psycho-physische Streßreaktionen<br />
auf den Organismus ein. Während die<br />
Behandlung und Heilung von Infektionskrankheiten<br />
und Unfällen für die heute dominierende<br />
klinische Medizin kaum mehr grundsätzliche<br />
Probleme aufgibt, ist ihr Erfolg im Bereich der<br />
heute in den Vordergrund drängenden chronischen<br />
Erkrankungen wesentlich geringer. Im<br />
Regelfall lassen sich die Ursachen chronischer<br />
Erkrankungen weder durch medikamentöse<br />
noch durch sonstige medizinische Behandlungen<br />
beseitigen, sie entziehen sich ärztlicher<br />
Kontrolle. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie<br />
überhaupt nicht zu bekämpfen wären. Aber die<br />
keineswegs einfach, die Allgemeingültigkeit entsprechender<br />
Behauptungen empirisch zu belegen. Dies ist<br />
zum einen auf die schwierige Zugänglichkeit des<br />
privaten Lebensbereichs für die empirische Sozialforschung<br />
zurückzuführen. Es liegt zum zweiten an dem<br />
Umstand, daß familiale Lebenszusammenhänge in<br />
überaus komplexer Weise wirken, so daß sich einzelne<br />
Kausalzusammenhänge nur schwer isolieren lassen.<br />
Schließlich scheint das Vorherrschen einer am klinischen<br />
Paradigma orientierten Gesundheitsforschung<br />
in der Bundesrepublik Deutschland die Untersuchung<br />
der hier interessierenden Zusammenhänge weitgehend<br />
vernachlässigt zu haben. Die meisten verfügbaren<br />
Untersuchungen stammen aus den Vereinigten<br />
Staaten. Überblicke über den empirischen Forschungsstand<br />
der Zusammenhänge zwischen Familie<br />
und Gesundheit geben insbesondere die Arbeiten von<br />
McCubbin u. a. (1980), Waltz (1981), Ilfeld (1982),<br />
Pearlin/Turner (1987), Hurrelmann (1988), Gove/<br />
Style/Hughes (1990); vgl. auch Dawson (1991).<br />
2) Eine Grundlage dieses Abschnittes bildet die Expertise<br />
von Klaus Hurrelmann: Die Rolle der Familie für<br />
die Gesundheitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen.<br />
Ursache-Wirkungsketten sind hier komplizierter.<br />
Für einen großen Teil der chronischen Krankheiten<br />
hat sich heute die Auffassung durchge-<br />
-<br />
setzt, daß sie Reaktionen auf eine Überforderung<br />
der psycho-physischen Anpassungsfähigkeit<br />
des Menschen gegenüber Umwelteinflüssen<br />
darstellen. Dabei kann es sich sowohl um<br />
organspezifische Prozesse als auch um diffuse<br />
Phänomene der Überforderung im kognitiven,<br />
emotionalen und/oder organischen Sinne handeln.<br />
Ein nicht unerheblicher Teil von Kindern<br />
und Jugendlichen in der Bundesrepublik leidet<br />
unter offenkundigen Symptomen der Überforderung,<br />
die sich beispielsweise in chronischen<br />
Krankheiten wie Allergien, Asthma und Neurodermitis<br />
äußern, unter denen schätzungsweise<br />
7 — 10 % aller Kinder und Jugendlichen leiden<br />
(Petermann, Noecker und Bode 1987; Steinhausen<br />
1988). Auch psycho-vegetative und psychosomatische<br />
Beschwerden wie Nervosität, Unruhe,<br />
Depressionen, Kreuz- und Rückenschmerzen,<br />
Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindelgefühl,<br />
Eßstörungen, Magenbeschwerden<br />
und Schlafstörungen nehmen zu, von denen bis<br />
zu einem Drittel der Jugendlichen im zweiten<br />
Lebensjahrzehnt berichten (Engel/Hurrelmann<br />
1989; Marshall/Zenz 1989). Schließlich läßt sich<br />
eine Zunahme gesundheitsgefährdender Verhaltensweisen<br />
wie Alkohol, Tabak, Drogenund<br />
Medikamentenkonsum sowie von aggressiven<br />
und sozialstörenden Verhaltensweisen beobachten.<br />
In fortgeschrittenem Lebensalter zeigen<br />
vor allem ein dauerhaft überhöhter Bluthochdruck<br />
sowie erhöhte Werte von Blutfett und<br />
Blutharnsäure Belastungen des Organismus an,<br />
die vielfach zu Kreislauferkrankungen führen,<br />
welche heute allein für rund die Hälfte aller<br />
Todesfälle in der Bundesrepublik Deutschland<br />
ursächlich sind.<br />
Zur Erklärung derartiger Gesundheitsstörungen,<br />
die auffallend vom früheren Spektrum der<br />
Morbidität abweichen, erweist sich ein Konzept<br />
von Gesundheit und Krankheit als brauchbar,<br />
welches Erkrankungen nicht von organspezifischen<br />
Prozessen her sondern als Versagen der<br />
Anpassungs- und Regulierungsleistungen des<br />
Menschen in seiner physisch-psychischen Einheit<br />
und seinem sozialen Kontext versteht. Zur<br />
Erklärung dieser Zusammenhänge hat sich in<br />
den letzten zwanzig Jahren ein streßtheoretisches<br />
Paradigma durchgesetzt, das ursprünglich<br />
von Physiologen entwickelt wurde, heute<br />
aber vor allem von gesundheitswissenschaftlich<br />
arbeitenden Psychologen und Soziologen fortentwickelt<br />
wird 3 ).<br />
Diesem Erklärungsansatz zufolge befinden sich<br />
Psyche und Organismus des Menschen unter<br />
fortgesetzter Beanspruchung durch die Erfordernisse<br />
der alltäglichen Lebensbewältigung,<br />
3 ) Grundlegend Lazarus 1966, Lazarus/Folkman 1984;<br />
vgl. auch Caplan 1974, Cobb 1976, v. Eiff 1976, Badura<br />
1981, Pearlin u. a. 1981, McCubbin u. a. 1983 sowie<br />
zusammenfassend Badura/Pfaff 1989.<br />
Ursachen<br />
chronischer<br />
Krankheiten<br />
Bedeutung<br />
und<br />
Bewältigung<br />
fortgesetzter<br />
Beanspruchung