Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag
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Abhängig<br />
keit als<br />
wichtiges<br />
Merkmal<br />
Bedeutung<br />
des<br />
sozialen<br />
Kontextes<br />
Drucksache 12/7560<br />
kein brauchbares Kriterium der Suchtabgrenzung.<br />
In einem weiteren Sinne werden heute<br />
auch Eßstörungen (Magersucht, Eß-Brech-<br />
Sucht und Eßsucht) als Süchte mit deutlich<br />
gesundheitsschädigenden Wirkungen angesehen.<br />
Umstritten ist, inwieweit eine offenkundige<br />
Einseitigkeit der Betätigungsweisen wie z. B.<br />
exzessives Glücksspiel, Fernseh-/Video-Konsum,<br />
unentwegtes Arbeiten oder eine exzessive<br />
Bindung an bestimmte Personen Ausdruck psychischer<br />
Abhängigkeiten sind, die ebenfalls<br />
dem Formenkreis der Sucht zuzuordnen sind 9).<br />
Phänomenologisch äußert sich Sucht als offenkundige<br />
Abhängigkeit eines Menschen von bestimmten<br />
Stoffen oder Verhaltensweisen, auf<br />
die sein ganzes Interesse mehr und mehr zusammenschrumpft,<br />
so daß der Raum der Wirklichkeitserfahrung<br />
und die Fähigkeit zur Auseinandersetzung<br />
mit der Umwelt immer mehr reduziert<br />
werden. Auf diese Weise findet der/die<br />
Süchtige selbst keinen Ausweg mehr aus der<br />
Anhängigkeit und ist hierfür auf geeignete<br />
Hilfen angewiesen. Wir beschränken uns im<br />
folgenden auf diejenigen Suchtformen, für die<br />
ein Zusammenhang zur Gesundheitsproblematik<br />
offenkundig ist.<br />
Während in älteren Klassifikationen Süchte im<br />
wesentlichen nach den sie erzeugenden Stoffen<br />
geordnet wurden, hat sich heute eine Betrachtungsweise<br />
durchgesetzt, die den Tatbestand<br />
der Abhängigkeit in den Vordergrund rückt und<br />
davon ausgeht, daß die Objekte der Sucht<br />
teilweise austauschbar sind. „Nach allgemeinster<br />
wissenschaftlicher Übereinstimmung ist<br />
Sucht ein zwanghafter Drang, durch bestimmte<br />
Reize oder Reaktionen Lustgefühle oder Zustände<br />
herbeizuführen bzw. Unlustgefühle zu<br />
vermeiden. Die Sucht stellt einen Versuch dar,<br />
Bedürfnisse unmittelbar und unter Umgehung<br />
all der Verhaltensweisen zu bef riedigen, die<br />
natürlicherweise zu ihrer Befriedigung führen.<br />
Der Zwang, unter dem der Süchtige dabei steht,<br />
ist mit einem Mangel an Selbstkontrolle gleichzusetzen.<br />
Ziel des Suchtverhaltens und Inhalt<br />
des Lustzustandes ist der Aufbau einer Scheinwelt<br />
im Sinne einer Realitätsflucht. " (Heckmann<br />
1987, S. 1070) Deutliches Symptom süchtiger<br />
Abhängigkeit ist das Auftreten von Entzugserscheinungen,<br />
wenn das Mittel der Sucht<br />
nicht zur Verfügung steht.<br />
Jedes Suchtverhalten wird erlernt, ist also nicht<br />
angeboren 10). Dem Beispiel der Umgebung,<br />
insbesondere auch demjenigen der Eltern und<br />
gleichaltrigen Bezugspersonen kommt dabei<br />
die größte Bedeutung zu. Nachahmung der Erwachsenen,<br />
aber auch die Anerkennung durch<br />
die Gleichaltrigen veranlaßt viele Jugendliche,<br />
Verhaltensweisen zu erproben, die sich dann<br />
bei ungünstigen Dispositionen und/oder Umständen<br />
zur Sucht verfestigen können.<br />
9) Zur Definitionsproblematik vgl. Nathan 1965, Heckmann<br />
1987, 1988; Gaßmann 1988, Neuser/Höfer<br />
1992.<br />
10) Lediglich bezüglich der Neigung zum Alkoholismus<br />
wird ein genetischer Erklärungsanteil vermutet.<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode<br />
Insoweit also riskante Verhaltensweisen wie<br />
z. B. Rauchen, Alkoholkonsum oder Glücksspiel<br />
in bestimmten sozialen Milieus selbstverständlich<br />
akzeptiert sind, wächst die Wahrscheinlich-keit,<br />
daß Personen, die zu einem Kompensation,-<br />
oder Fluchtverhalten disponiert sind, sich<br />
gerade dieser Formen bedienen. Hinzu kommt,<br />
daß der Konsum von bei regelmäßigem Gebrauch<br />
abhängig machenden Stoffen den Produzenten,<br />
Verteilern und vielfach dem über<br />
Sondersteuern partizipierenden Staat erhebliche<br />
Gewinnchancen versprechen, so daß über<br />
Werbeanstrengungen versucht wird, den Absatz<br />
dieser Produkte zu erhöhen. Es ist daher zu<br />
vermuten, daß mit steigendem Wohlstand die<br />
Vielfalt der Suchtformen zunimmt.<br />
2.2 Prävalenz unterschiedlicher Suchtformen:<br />
alte und neue Bundesländer<br />
Es liegt in der Natur der Sache, daß Suchtverhalten<br />
nur schwer einer empirischen Erfassung<br />
zugänglich ist. Die Abhängigkeit läßt sich im<br />
statistischen Querschnitt praktisch kaum messen,<br />
hierzu liegen nur klinische Materialien vor.<br />
Die Verbreitung des Gebrauchs bestimmter<br />
suchtträchtiger Mittel läßt sich in etwa durch<br />
Befragungen ermitteln. Im Vordergrund stehen<br />
jedoch bisher Versuche, die Verbreitung von<br />
Sucht durch den Vergleich von Produktionsoder<br />
Konsummengen bestimmter Stoffe zu erfassen,<br />
von denen bekannt ist, daß sie Abhängigkeiten<br />
erzeugen können. Entsprechende<br />
Schlußfolgerungen sind jedoch wenig verläßlich:<br />
Zum einen ergeben sich statistische Erhebungsprobleme,<br />
insbesondere bei den illegalen<br />
Stoffen. Zum anderen kann bei vielen Stoffen<br />
wie z. B. Arzeimitteln aus den Absatzziffern<br />
allein kaum auf das erzeugte Suchtpotential<br />
geschlossen werden. Selbst bei Alkohol, Nikotin<br />
und Koffein sind nur bestimmte Rückschlüsse<br />
von den durchschnittlichen Konsummengen auf<br />
die Verbreitung entsprechender Abhängigkeiten<br />
und die daraus resultierenden Gesundheitsschädigungen<br />
möglich. Schließlich gibt es viele<br />
Süchte — wie z. B. die Eßstörungen — deren<br />
Befriedigung überhaupt nicht an bestimmte<br />
Stoffe gebunden ist. Mit diesen Vorbehalten sei<br />
im folgenden der aktuelle Kenntnisstand zur<br />
Verbreitung bestimmter Suchtstoffe und Suchtformen<br />
in den alten und neuen Bundesländern<br />
mitgeteilt 11).<br />
Zu Vergleichszwecken bietet sich hier die<br />
Umrechnung des Absatzes alkoholhaltiger Getränke<br />
entsprechend ihrem Alkoholgehalt in<br />
Liter reinen Alkohols an. Wie Tabelle X/2 zeigt,<br />
ist der Alkoholkonsum in den alten Bundesländern<br />
und der DDR bis 1980 stark angestiegen,<br />
während sich in den 80er Jahren in den alten<br />
Bundesländern ein leichter Rückgang und in<br />
11 ) Die Hauptquelle für die folgenden Informationen<br />
stellt das von der Deutschen Hauptstelle gegen die<br />
Suchtgefahren herausgegebene „Jahrbuch Sucht<br />
1992" dar; vgl. auch Reuband 1988, 1989.<br />
Häufigkeit<br />
und Intensität<br />
der<br />
Sucht<br />
Alkohol