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Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag

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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7560<br />

Individua<br />

listisches<br />

Thera<br />

piemo<br />

dell<br />

Familien<br />

therapeu<br />

tische<br />

Verfahren<br />

4.2 Das therapeutische Geschehen<br />

und der familiale Kontext<br />

Sowohl von seiten der klinischen Medizin als<br />

auch nach dem der Systematik des Sozialgesetzbuches<br />

zugrunde liegenden Krankheitsbegriff<br />

wird Krankheit als eine am Individuum<br />

auftretende Erscheinung betrachtet, die durch<br />

Therapie am Individuum geheilt werden soll.<br />

Solange die ärztliche Regelversorgung durch<br />

einen mit den häuslichen und familiären Verhältnissen<br />

in etwa vertrauten Hausarzt erfolgte,<br />

stand dieses individualistische Therapiemodell<br />

einer Berücksichtigung und günstigenfalls auch<br />

therapeutischen Indienstnahme des familialen<br />

Kontextes nicht im Wege. Mit der Verlagerung<br />

der ärztlichen Versorgung auf ein sich fortschreitend<br />

differenzierendes Spezialarztsystem<br />

wird der familiale Kontext des Krankheitsgeschehens<br />

den Therapeuten jedoch immer weniger<br />

gegenwärtig. Dies ist besonders problematisch<br />

im Bereich von chronischen Erkrankungen<br />

mit erheblichen psychischen und sozialen Verursachungsanteilen.<br />

Legt man den im vorangehenden entwickelten<br />

allgemeinen Begriff von Krankheit als symptomatische<br />

Reaktion auf die Überforderung<br />

des (psychischen oder physischen) ,Immunsystems'<br />

zugrunde, so wird offenkundig, daß<br />

neben und u. U. sogar statt der Behandlung der<br />

physischen Symptome in vielen Fällen eine<br />

Veränderung der Einstellungen und die Stärkung<br />

der psychischen Kompetenz des Leidenden<br />

Aussicht auf dauerhafte Erfolge versprechen.<br />

Aus der Einsicht, daß psychische Störungen<br />

zu erheblichen Beeinträchtigungen der<br />

Gesundheit führen können, die sich mit den<br />

körperzentrierten Heilverfahren nicht beheben<br />

lassen, hat sich ein breites Feld von Therapieformen<br />

entwickelt, die ausschließlich oder vorwiegend<br />

an den psychischen Eigenschaften und<br />

Fähigkeiten des Individuums ansetzen. Insoweit<br />

allerdings chronische Krankheiten die<br />

Folge einer Überforderung der psychophysischen<br />

Anpassungsfähigkeit durch Umwelteinflüsse<br />

sind, dürfte eine Veränderung bzw. dauerhafte<br />

Heilung ohne Beeinflussung der entsprechenden<br />

Umweltfaktoren schwer möglich<br />

sein.<br />

Das zeigt sich mit Bezug auf die Familie besonders<br />

deutlich bei den sog. Suchtkrankheiten<br />

(vgl. X.2.3). Sie sind ein wichtiges Anwendungsfeld<br />

der sog. familientherapeutischen Verfahren,<br />

welche nicht allein das symptombehaftete<br />

-<br />

Familienmitglied, sondern die Familie als<br />

System oder Kommunikationszusammenhang<br />

,heilen' wollen. So findet auch in der Bundesrepublik<br />

die ursprünglich in den Vereinigten<br />

Staaten entwickelte systemische Familientherapie<br />

zunehmende Beachtung. Ihre Vertreter sind<br />

häufig Psychoanalytiker, die den ausschließlich<br />

individuumszentrierten und die Familienmitglieder<br />

aus der therapeutischen Beziehung ausschließenden<br />

Charakter der Psychoanalyse als<br />

problematisch erfahren haben. Die systemische<br />

Familientherapie geht davon aus, daß die bei<br />

einem bestimmten Familienmitglied auftretenden<br />

Störungen Ausdruck einer pathogenen<br />

Familienkonstellation sind und daher nur durch<br />

therapeutische Arbeit mit mehreren Familienmitgliedern<br />

geheilt werden können. Man<br />

schließt dabei nicht aus, daß die pathogene<br />

Familienkonstellation durchaus auch in Wechselwirkung<br />

mit krankhaften Eigenschaften<br />

eines Familienmitglieds entstanden sein bzw.<br />

aufrechterhalten werden kann. Darüber hinaus<br />

hat man vielfach die Erfahrung gemacht, daß<br />

Familienmitglieder als Ko-Therapeuten eine<br />

wichtige Hilfe sein können. Der Therapeut, der<br />

nicht nur mit einem Patienten, sondern auch mit<br />

dessen Familienangehörigen arbeitet, paßt<br />

jedoch nicht in die rechtliche Systematik der<br />

ausschließlich individuumszentrierten Behandlungsverfahren.<br />

Auch wenn es nicht Aufgabe der <strong>Familienbericht</strong>skommission<br />

sein kann, zur Wirksamkeit<br />

bestimmter Therapieverfahren Stellung zu nehmen,<br />

erscheint dieses Beispiel beachtlich, weil<br />

es einen Aspekt der strukturellen Rücksichtslosigkeit<br />

gegenüber Familien verdeutlicht: Individuumszentrierte<br />

Psychotherapien klammern im<br />

Unterschied zu den familienzentrierten den<br />

Umstand aus, daß die meisten Menschen gleichzeitig<br />

Mitglieder ihrer Familie sind, und daß<br />

deren Angehörige gerade im Falle psychischer<br />

Störungen ein hochemotionalisiertes Interesse<br />

am Ausgang der Therapie haben. Wie die Familie<br />

die sich aus der Therapie ergeben Veränderung<br />

des Patienten in das Familiengleichgewicht<br />

integriert, bleibt ihr überlassen. Ihr wird<br />

bei dieser schwierigen Integrationsleistung<br />

keine Hilfe gegeben, und gerade dadurch kann<br />

ihre Kohäsions-, Anpassungs- und Kommunikationsfähigkeit<br />

überfordert werden.<br />

Es finden sich in jüngster Zeit verschiedene<br />

Versuche, die entstandene Isolierung zwischen<br />

medizinischer Therapie und familialem Kontext<br />

zu durchbrechen. So wird beispielsweise versucht,<br />

daß Tätigkeitsspektrum der Hebammen<br />

so zu erweitern, daß sie als Beraterinnen Hilfe<br />

und Betreuung von der Schwangerschaft bis<br />

zum Ende der Stillperiode leisten können (Hebammenprojekt<br />

Emsland, 1993). In der ambulanten<br />

psychiatrischen und psychosomatischen<br />

Therapie wird der ergänzende Einsatz von Sozialarbeitern<br />

erprobt und z. T. bereits von Krankenkassen<br />

finanziert (Holler u. a. 1989). Aber<br />

derartige Modellversuche sind nicht flächendeckend<br />

und betreffen erst kleine Ausschnitte<br />

der Problematik. Es ist z. B. offenkundig, daß<br />

eine in vielen Fällen therapeutisch erforderliche<br />

Änderung von Eßgewohnheiten durch die<br />

Abgabe von Informationsbroschüren in der<br />

ambulanten Praxis i. d. R. nicht angemessen<br />

induziert werden kann, da dies eine Anleitung<br />

unter Berücksichtigung der konkreten Haushaltgegebenheiten<br />

voraussetzt. Aus gegebenem<br />

Anlaß weist die Kommission auch auf den<br />

nunmehr zur gesetzgeberischen Entscheidung<br />

anstehenden Entwurf eines Psychotherapeutengesetzes<br />

vom 20. Juli 1993 hin, der in § 8<br />

Überwindung<br />

der<br />

Isolierung<br />

zwischen<br />

Therapie<br />

und familialem<br />

Kontext

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