Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag
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Drucksache 12/7560<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode<br />
Bedeutung<br />
der<br />
Familie:<br />
Grundlegende<br />
Dispositionen<br />
Umgang<br />
mit Beein<br />
trächti<br />
gungen<br />
der Ge<br />
sundheit<br />
z. B. ungesunde Ernährung, Süchtigkeit, Bewegungsarmut,<br />
riskante oder belastende Arbeitsverhältnisse,<br />
beengende Wohnverhältnisse, bedrückende<br />
Familienverhältnisse.<br />
Entsprechend diesen Dimensionen des Gesundheitsbegriffs<br />
läßt sich die Bedeutung der Familie<br />
für die Gesundheit in folgenden Dimensionen<br />
beschreiben:<br />
1. Grundlegende Dispositionen, welche die<br />
stärkere oder geringere Anfälligkeit des<br />
Menschen für schädigende Einflüsse bestimmen,<br />
sind entweder genetisch bedingt oder<br />
das Ergebnis langfristig wirksamer Faktoren,<br />
die in der Kindheit als Sozialisationsbedingungen,<br />
im Erwachsenenalter als Aspekte<br />
der Lebenslage und der Lebensweise thematisiert<br />
werden. Diese Dispositionen werden in<br />
der Literatur unterschiedlich beschrieben,<br />
doch lassen sich im wesentlichen drei Komponenten<br />
identifizieren: (1) Eine organische<br />
Komponente, die sich beispielsweise in der<br />
physischen Beanspruchbarkeit und Widerstandsfähigkeit<br />
gegen Erkrankungen äußert;<br />
(2) eine Fähigkeitskomponente, die die erworbenen<br />
Fähigkeiten im Umgang mit der<br />
Umwelt und ihren Herausforderungen umfaßt;<br />
(3) eine Identitätskomponente, welche<br />
emotional bedeutsame Dispositionen wie<br />
Selbstbild, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl,<br />
Offenheit für Mitmenschen, Frustrations-<br />
und Ambiguitätstoleranz umfaßt. In<br />
diesem Zusammenhang kommt den familialen<br />
Bedingungen eine zentrale Bedeutung<br />
zu: In der Kindheit wirken sie weit stärker als<br />
die übrigen Sozialisationsbedingungen unmittelbar<br />
auf die körperlichen und psychosozialen<br />
Entwicklungsprozesse der Kinder<br />
ein; Zuwendung, Körperpflege, gesunde Ernährung<br />
und eine altersgemäße gedeihliche<br />
Gestaltung des kindlichen Alltags sind von<br />
entscheidender Bedeutung für die kindliche<br />
Entwicklung. Nachhaltige Einflüsse gehen<br />
von der Familienstruktur und den emotionalen<br />
Beziehungen in der Familie aus. Aber<br />
auch die Lebensumstände der Familie, insbesondere<br />
ihr sozio-ökonomischer Status<br />
und ihre Wohnverhältnisse, haben nachweisbare<br />
Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung.<br />
Für den heranwachsenden und erwachsenen<br />
Menschen stellt der familiale Alltag<br />
mit seinen spezifischen Unterstützungen<br />
und Belastungen ein zentrales Lebensfeld<br />
dar, von dem nachhaltige Impulse für eine<br />
gesunde oder krankmachende Lebensweise<br />
ausgehen können.<br />
2. Der Umgang mit akuten oder dauerhaften<br />
Beeinträchtigungen der Gesundheit vollzieht<br />
sich in der Regel sehr verschieden, je<br />
nach dem, ob ein Mensch in einen Familienverband<br />
integriert ist oder nicht. Mehrpersonenhaushalte<br />
verfügen über größere Flexibilität,<br />
um den krankheitsbedingten Ausfall<br />
eines Mitglieds bei der Erledigung der praktischen<br />
Dinge zu kompensieren und entsprechende<br />
Belastungen aufzufangen. Familien<br />
angehörige — insbesondere die Frauen —<br />
sind die wichtigsten Pflegepersonen, und ihr<br />
Fehlen bringt eine weitaus stärkere Inanspruchnahme<br />
öffentlicher Pflegedienste und<br />
-<br />
Einrichtungen mit sich. Darüber hinaus läßt<br />
sich zeigen, daß der überwiegende Teil aller<br />
Krankheitsepisoden ohne professionelle<br />
Hilfe eigenverantwortlich und in Selbsthilfe<br />
durch die Erkrankten und ihre Familien<br />
bewältigt werden.<br />
3. Familiale Lebenszusammenhänge erweisen<br />
sich auch von entscheidender Bedeutung für<br />
das subjektive Wohlbefinden der Menschen.<br />
Familienmitglieder stellen zumeist ein hohes<br />
emotionales Unterstützungspotential dar,<br />
und darüber hinaus verfügen Familien in der<br />
Regel auch über ausgedehntere Netzwerkbeziehungen<br />
als Alleinstehende, von denen<br />
instrumentelle Hilfe bei anstehenden Problemen<br />
erwartet werden kann (vgl. Kapitel II.4).<br />
Allerdings werden diese Leistungen ganz<br />
überwiegend von den Frauen erbracht, die<br />
männliche Unterstützungsbereitschaft beschränkt<br />
sich in der Regel — und auch dort<br />
nicht immer — auf den Ehepartner. Auch<br />
wenn selbstverständlich die Leistungsfähigkeit<br />
und die Daseinskompetenzen unter heutigen<br />
Bedingungen hochgradig vom Bildungsgrad<br />
und den beruflichen Erfahrungen<br />
abhängen, so bleibt die informelle, zumeist<br />
über die Familie vermittelte Anerkennung<br />
und Unterstützung dennoch eine wesentliche<br />
Auffanglinie für unvorhersehbare Herausforderungen<br />
und Belastungen. Insbesondere<br />
Bedrohungen des Selbstvertrauens und<br />
Selbstwertgefühls können durch entsprechende<br />
mitmenschliche Anerkennung und<br />
Unterstützung aufgefangen werden. Die Aktualisierung<br />
der Humanvermögen erscheint<br />
in erheblichem Umfang vom Ausmaß familialer<br />
Unterstützung in Krisensituationen mit<br />
abhängig.<br />
4. Vor allem im Falle psychischer Krankheiten<br />
und Behinderungen, aber auch im Falle<br />
schwerer Körperbehinderungen und chronischer<br />
Krankheit sowie bei Suchtkrankheiten<br />
eines Familienmitglieds entstehen im Regelfall<br />
schwerwiegende Belastungen der übrigen<br />
Familienmitglieder, was zu Störungen<br />
des Familienlebens und der Leistungsfähigkeit<br />
der Familien selbst führen kann. Psychische<br />
Erkrankungen sowie Suchtverhalten<br />
können zudem selbst durch die Familienkonstellation<br />
mitbedingt sein. So ist die Familie<br />
nicht nur ein wesentlicher Schutz und Unterstützungsfaktor,<br />
sondern unter bestimmten<br />
Bedingungen auch ein pathogener Lebenskontext,<br />
der ihre Mitglieder überfordert. Hier<br />
ist Hilfe zumeist nur von außen und durch<br />
Veränderung der familialen Lebenszusammenhänge<br />
möglich 1 ).<br />
1 ) Auch wenn die skizzierten Zusammenhänge in der<br />
Literatur nahezu unbestritten sind und durch zahlreiche<br />
Fallstudien und kleine Stichprobenuntersuchungen<br />
plausibel gemacht werden können, so ist es doch<br />
Emotionale<br />
Un<br />
terstüt<br />
zung<br />
Belastungen<br />
der<br />
Familie<br />
Familie<br />
als pathogener<br />
Lebenskontext