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Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag

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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7560<br />

Kritische<br />

Lebens<br />

ereignisse<br />

Risikofaktoren<br />

Als die nachweislich nachhaltigsten kritischen<br />

Lebensereignisse, deren Nachwirkungen auf<br />

die Familienmitglieder oft noch nach Jahren<br />

festgestellt werden können, müssen die Scheidung<br />

(der Eltern oder des Partners) (Amato/<br />

Keith 1991) sowie längerdauernde Arbeitslosigkeit<br />

des hauptsächlich Erwerbenden oder beider<br />

Elternteile bzw. des Partners gelten. Während<br />

im Falle der Scheidung die Überforderung<br />

des Familienzusammenhangs offenkundig<br />

wird, und ihre Wirkung sowohl im Wegfall des<br />

normalerweise zu erwartenden familialen Unterstützungszusammenhangs<br />

als auch in der<br />

Erfahrung des Versagens der beteiligten Individuen<br />

zu suchen ist, muß langdauernde Arbeitslosigkeit<br />

eher als ein chronischer Stressor gelten,<br />

der zum einen den finanziellen Handlungsspielraum<br />

der Familie einengt und zum anderen<br />

auch zu psychischen Belastungen des Familienzusammenhanges<br />

führt. Überhaupt zeigen empirische<br />

Studien, daß „ein Unglück selten allein<br />

kommt" , daß also in der Regel familiale Krisensituationen<br />

aus dem Zusammentreffen einer<br />

Mehrzahl belastender ,Risikofaktoren' resultieren.<br />

Als derartige Risikofaktoren können insbesondere<br />

gelten:<br />

- eine beengte sozio-ökonomische Lage, wie<br />

sie insbesondere für alleinerziehende Eltern<br />

und Familien mit einem arbeitslosen Haupterwerber<br />

charakteristisch ist;<br />

— ungünstige Wohnbedingungen, d. h. beengte<br />

Wohnverhältnisse und hohe Wohnungsdichte,<br />

aber auch Lärmbelastungen,<br />

fehlende Einbindung in die Nachbarschaft<br />

und ungenügende Bewegungsmöglichkeiten<br />

für die Kinder;<br />

— belastende Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten;<br />

— das Fehlen naher Verwandter und Freunde<br />

und der damit normalerweise erwartbaren<br />

Unterstützungsleistungen;<br />

— persönliche Belastungen der Eltern bzw.<br />

Ehepartner aufgrund ihrer bisherigen Biographie,<br />

die sich als besondere Verletzlichkeit<br />

und geringe Frustrations- bzw. Ambiguitätstoleranz<br />

äußern;<br />

— psychische Störungen und niedriges Selbstwertgefühl<br />

eines Familienmitglieds, das zu<br />

erheblichen Belastungen der übrigen Mitglieder<br />

führt;<br />

— eine gestörte Partnerbeziehung;<br />

— gestörte Beziehungen zwischen Kindern und<br />

Eltern;<br />

— ein gestörtes Familienklima, das sich in fehlenden<br />

Aussprachemöglichkeiten, Konfliktunterdrückung<br />

oder Gewalt, mangelndem<br />

Vertrauen und häufiger Zurückweisung<br />

äußert;<br />

— der Verlust von Familienmitgliedern, sei es<br />

durch Tod oder Bruch der familialen Solidarität.<br />

Je mehr dieser Risikofaktoren zusammentreffen,<br />

je höher also die Kumulation der Belastungen<br />

wird, desto wahrscheinlicher führen sie bei<br />

einzelnen oder allen Familienmitgliedern zu<br />

-<br />

psychischen (insbesondere depressiven) Folgewirkungen,<br />

die sich nicht selten auch in körperlichen<br />

Erkrankungen äußern oder aber zu Fehlverhalten<br />

wie Gewaltsamkeit, Sucht oder abweichendem<br />

Verhalten führen, wodurch zumeist<br />

neue Belastungen für den Familienzusammenhang<br />

entstehen.<br />

Die in den Vereinigten Staaten entwickelte<br />

psychologische und sozialwissenschaftliche Familien-Systemforschung<br />

5) hat drei Hauptdimensionen<br />

familialer Interaktion herausgearbeitet:<br />

Kohäsion, Anpassungsfähigkeit und<br />

Kommunikation. Dabei werden Kohäsion, d. h.<br />

Art und Grad der emotionalen Bindungen unter<br />

den Familienmitgliedern und Anpassungsfähigkeit,<br />

d. h. der Grad der Fähigkeit zur Veränderung<br />

interner Strukturen wie Machtverhältnisse<br />

und Rollenbeziehungen, als zentral für die<br />

Fähigkeit einer Familie zur Streßverarbeitung<br />

angesehen. Fehlende Kohäsion (Indifferenz der<br />

Familienmitglieder) und extrem starke Kohäsion<br />

(Abschließung gegenüber Dritten) erweisen<br />

sich für die Funktionsfähigkeit als ebenso<br />

bedrohlich wie Rigidität als fehlende Anpassungsfähigkeit<br />

oder eine zu chaotischen Familienbeziehungen<br />

führende Überangepaßtheit an<br />

die Umwelt. Neuere Untersuchungen (Lavee/<br />

Olson 1991) machen deutlich, daß es im wesentlichen<br />

auf eine angemessene Verbindung von<br />

Kohäsion und Anpassungsfähigkeit der Familien<br />

ankommt, wobei der familiale Zusammenhalt<br />

sich als wichtigster Schutzfaktor für das<br />

Wohlbefinden der Familienmitglieder unter den<br />

Bedingungen externer Belastungen erweist.<br />

Familien mit klar definie rten Rollenstrukturen<br />

scheinen sich unter starker Belastung besser zu<br />

bewähren als solche mit einer hohen Rollenflexibilität.<br />

Bei der Beurteilung derartiger Forschungsergebnisse<br />

ist zu berücksichtigen, daß sie von<br />

einer bestimmten, hier der systemtheoretischen<br />

Perspektive ausgehen, für die bestimmte Systemeigenschaften<br />

in allen Fällen dominant<br />

erscheinen. Andere Forschungsansätze versuchen,<br />

unterschiedliche Typen von Familien zu<br />

unterscheiden, für dann auch u. U. andere<br />

Situationsdefinitionen und Verhaltensweisen<br />

im Hinblick auf die Gesundheit nahe liegen<br />

(Cardia-Vonèche u. a. 1987).<br />

1.3 Familie und Gesundheitsverhalten 6)<br />

Neben der Bedeutung der Familie für das psychische<br />

Wohlbefinden ihrer Mitglieder und die<br />

Streßverarbeitung darf auch ihre Bedeutung als<br />

5) Vgl. insbesondere Hill 1949, McCubbin u. a. 1980,<br />

Aldous/Klein 1988, Olson u. a. 1989.<br />

6) Eine Grundlage dieses Abschnittes bildet die Expertise<br />

von Dieter Grunow „Rolle und Bedeutung der<br />

Familie für die Gesunderhaltung und das Gesundheitsverhalten<br />

ihrer Mitglieder". Vgl. auch Cresson/<br />

Pitrou 1991, Pratt 1991.<br />

Kohäsion<br />

und An<br />

passungs<br />

fähigkeit<br />

der Familie<br />

als<br />

Voraussetzung<br />

für<br />

Streßverarbeitung<br />

Familie<br />

als Element<br />

des<br />

Systems<br />

der Ge<br />

sundheits<br />

vorsorge<br />

und Kran<br />

kenver<br />

sorgung

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