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Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag

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Dunkelziffer<br />

Drucksache 12/7560<br />

Ausweitung des Begriffs „Mißhandlung", auf<br />

die stärkere Sensibilisierung, Gewalt als Durchsetzungsmittel<br />

bei Beziehungskonflikten nicht<br />

zu dulden und/oder nicht ertragen zu müssen,<br />

hindeuten. Auch gegen die amtliche Kriminalstatistik<br />

ist einzuwenden, daß sie eventuell<br />

Veränderungen im kriminellen Verhalten gar<br />

nicht mißt, sondern nur die Veränderungen des<br />

Anzeigeverhaltens. Sie weist im übrigen einen<br />

Rückgang auf: 1983 wurden 1 350 Kindesmißhandlungen<br />

(§ 223 StGB) registriert, 1987 =<br />

1 120. Auch die Zahl der Kindestötungen (§ 217<br />

StGB) nahm ab. Ihre Zahl betrug 1983 = 38 und<br />

1987 = 19. Gleiches gilt für den Tatbestand der<br />

Kindesvernachlässigungen (§ 170 StGB): 1983 =<br />

834 Fälle; 1987 = 662). Alle diese Formen der<br />

Gewaltanwendungen wurden von 62 bis zu<br />

75 % von einem Elternteil oder nahen Verwandten<br />

begangen (vgl. Rothe: Expertise über<br />

Gewalt in der Familie). Aber die Abnahme<br />

könnte auch auf die demographische Entwicklung<br />

(Rückgang der Geburtenzahlen) zurückzuführen<br />

sein oder lediglich auf die Veränderung<br />

der „Dunkelquote"<br />

Die Dunkelziffer wird gerade, was das Gewaltphänomen<br />

und speziell die sexuelle Mißhandlung<br />

in der Familie anbetrifft, hoch sein. So<br />

wollen andere Familienmitglieder — z. B. die<br />

Mütter in bezug auf sexuelle Gewalt ihrer<br />

Ehemänner gegenüber ihren Töchtern —<br />

zumeist den Tatbestand gar nicht wahrhaben<br />

und verdrängen Verdachtsmomente; sie werden<br />

schließlich — wenn ein Ausweichen nicht<br />

mehr möglich ist — Veränderungen treffen,<br />

aber den Sachverhalt nicht „öffentlich" machen.<br />

„Verheimlichungen" innerhalb der Familie<br />

und nach außen lassen Gewaltphänomene in<br />

vielen Familien als nicht existent erscheinen<br />

und werden somit auch statistisch „ausgeblendet".<br />

Aber schließlich ist die Frage, ob die Zunahme<br />

von Gewalt empirisch belegbar ist oder nicht,<br />

nicht die wichtigste, sondern der Tatbestand,<br />

daß — auch heute noch — Gewalt in der Familie<br />

existiert, obwohl die gravierenden psychischen<br />

Folgen für die Betroffenen — auch als<br />

Langzeitfolgen -- wissenschaftlich erwiesen<br />

sind.<br />

In einer Befragung von Engfer u. a. (1983)<br />

gaben 10 % der befragten Mütter und 8 % der<br />

Väter an, ihre Kinder unter Zuhilfenahme von<br />

Gegenständen zu züchtigen. Eine Studie über<br />

die verursachenden Bedingungen von Ehescheidungen<br />

zeigt, daß 13 % der Befragten<br />

betonten, daß ihr Partner am Ende der Ehe<br />

Gewalt ihnen gegenüber angewendet hätte<br />

(Nave-Herz u. a. 1990, S. 121). Auch 3 % der<br />

Ehemänner gaben zu, von ihren Frauen gewaltmäßig<br />

angegriffen worden zu sein, obwohl diese<br />

Äußerung mit dem gesellschaftlich gültigen<br />

Bild von Männlichkeit nicht vereinbar ist und<br />

damit u. U. sogar eine Verzerrungstendenz<br />

nach „unten" bewirkt hat.<br />

<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> 12. Wahlperiode<br />

Das Problem „Gewalt in der Familie" ist nicht<br />

auf eine bestimmte soziale Schicht begrenzt und<br />

bezieht ferner alle Familienmitglieder in jeder<br />

Altersstufe ein. So gibt es Gewalthandlungen<br />

unter Geschwistern, in sog. „Alt-Ehen", von<br />

Kindern ihren Eltern gegenüber sowohl im Kindes-<br />

als auch im Jugendalter sowie seitens der<br />

erwachsenen Kinder gegenüber ihren alten<br />

Eltern, z. B. in Pflegesituationen. Dabei ist<br />

Gewalt in der Familie auf allen Ebenen mit der<br />

spezifischen Botschaft verbunden, daß Liebe<br />

und Gewalt sich nicht auszuschließen brauchen,<br />

sondern daß im Gegenteil zwischen beiden<br />

Aspekten ein enger Zusammenhang bestehen<br />

kann (Buskotte 1992, S. 74).<br />

Auf die Frage nach den verursachenden Bedingungen<br />

im Hinblick auf die Ausübung von<br />

Gewalt in der Familie sind zwar auch familienendogene<br />

Faktoren zu nennen, z. B. die selbst<br />

erfahrene Gewalt erhöht das Risiko, Gewalt<br />

selbst anzuwenden; bestimmte Persönlichkeitsvariablen<br />

und Suchtabhängigkeiten prädestinieren<br />

zur Gewaltausübung in Konfliktfällen,<br />

bestimmte — zumeist anhaltende — Verhaltensweisen<br />

der Kinder, trotz vielfacher Ermahnungen<br />

und Drohungen lösen bei Eltern aggressive<br />

Reaktionen aus u. a. m. Aber vor allem<br />

bestimmen familienexogene Bedingungen<br />

ebenso das Gewaltrisiko, insbesondere dann,<br />

wenn sie kumulativ auftreten: eine angespannte<br />

finanzielle Lage, Streß am Arbeitsplatz, Verlust<br />

des Arbeitsplatzes (sei es durch den Statuswechsel<br />

zum Rentner, sei es durch Arbeitslosigkeit,<br />

sei es durch freiwillige Aufgabe der<br />

Erwerbstätigkeit wegen der Kinder), Überforderung<br />

durch fehlende Rahmenbedingungen<br />

und Entlastungen, z. B. bei mütterlicher Erwerbstätigkeit,<br />

im Pflegefall von Angehörigen<br />

oder in Notfällen. Wahl (1989) hat das Phänomen<br />

der familialen Gewalt in seiner These von<br />

der „Modernisierungsfalle" zu erklären versucht:<br />

Er bezeichnet als Mythos der Moderne<br />

das Gesellschafts- und Weltbild des Fortschritts,<br />

die Verheißungen des selbstbewußten, autonomen<br />

Individuums und der liebesbegründeten<br />

Familie. Diese gesellschaftlich anerkannten<br />

Ziele konfrontiert er mit der realen gesellschaftlichen<br />

Modernisierung, um damit aufzuzeigen,<br />

welche Konsequenzen das Ergebnis dieser Konfrontation<br />

für die individuelle und familiale<br />

Lebenswirklichkeit hat. Mangelnde Anerkennung,<br />

berufliche Mißerfolge, nicht geglückte<br />

Aufstiegshoffnungen könnten die Selbstachtung<br />

dermaßen beeinträchtigen, daß sich die<br />

Aggression gegen die eigene Person richtet, in<br />

psychosomatischen Reaktionen, Depressionen<br />

oder suizidalen Impulsen, aber auch im sog.<br />

„stummen Leid". Andererseits kann auch frustriertes<br />

Warten auf Unterstützung von außen —<br />

z. B. durch die Familie, die helfen soll, ein<br />

bestimmtes Selbstbild zu verwirklichen oder<br />

überhaupt erst zu entwickeln — zu aggressiven<br />

Handlungen i. S. der Identifikation mit dem<br />

Aggressor, also zu Verhaltensweisen führen,<br />

deren Folgen andere betreffen: Fragwürdige<br />

Familiale<br />

Gewalt<br />

gibt es in<br />

allen sozialen<br />

Schichten<br />

Mögliche<br />

Gewaltursachen

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