Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7560<br />
Woh<br />
nungs<br />
nahes<br />
Angebot<br />
Das Ge<br />
sundheits<br />
system der<br />
DDR<br />
Das Ge<br />
sundheits<br />
system der<br />
Bundes<br />
republik<br />
liche Rolle für die familialen Lebenslagen. Im<br />
vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere<br />
die gesetzliche Krankenversicherung als bemerkenswertes<br />
Ausnahmebeispiel einer die<br />
Familienbedarfe systematisch berücksichtigenden<br />
Ausgestaltung öffentlicher Sozialleistungen<br />
zu erwähnen. Die unentgeltliche Mitversicherung<br />
der nicht erwerbstätigen Angehörigen<br />
eines Familienhaushalts stellt einen der wenigen<br />
effektiven Umverteilungsmechanismen<br />
zwischen Kinderreichen und Kinderlosen dar.<br />
Allerdings sichert die Unentgeltlichkeit der<br />
Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems<br />
noch kein wohnungsnahes und<br />
familienfreundliches Angebot. Für Haushalte,<br />
die kranke Angehörige versorgen müssen, ist<br />
vielmehr ein wohnungsnahes System medizinischer<br />
Versorgung sowie die Verfügbarkeit von<br />
die Familienpflege unterstützenden Einrichtungen,<br />
wie z. B. Sozialstationen, unabdingbar. Das<br />
gilt im besonderem Maße bei Familien mit<br />
behinderten oder chronisch pflegebedürftigen<br />
Mitgliedern.<br />
Was die Quantität und Qualität der gesundheitlichen<br />
Versorgung betrifft, so waren die Verhältnisse<br />
in den alten Bundesländern denjenigen<br />
in der DDR zweifellos überlegen; dennoch<br />
wies die Gesundheitsversorgung in der DDR in<br />
struktureller Hinsicht eine Reihe von Vorteilen<br />
auf, welche schlaglichtartig charakteristische<br />
Probleme des bundesdeutschen Gesundheitswesens<br />
beleuchten: Die ambulante Gesundheitsversorgung<br />
in der DDR erfolgte im wesentlichen<br />
im Rahmen von Polikliniken und Ambulatorien,<br />
also von Einrichtungen mit einer Mehrzahl<br />
von Fachärzten und Abteilungen. Sie wurden<br />
sowohl von Gebietskörperschaften wie<br />
auch von größeren Betrieben unterhalten. Diese<br />
medizinischen Einrichtungen waren multifunktional<br />
und standen häufig in Verbindung mit<br />
Krankenhäusern für die stationäre Pflege. Sie<br />
hatten neben einem umfassenden therapeutischen<br />
auch einen präventiven Auftrag. Betriebliche<br />
Einrichtungen nahmen z. B. auch Aufgaben<br />
des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im<br />
Betrieb wahr; zudem kannten die Ärzte dann in<br />
etwa auch die Arbeitsplatzverhältnisse ihrer<br />
Patienten. Im Rahmen der gebietskörperschaftlichen<br />
Polikliniken wurde das Bereichsarztsystem<br />
eingeführt, so daß die Bewohner eines<br />
Gebietes einen bestimmten, in etwa dem Hausarzt<br />
vergleichbaren Ansprechpartner vorfanden,<br />
der auch dann für sie zuständig blieb, wenn<br />
-<br />
eine Überweisung an andere Fachärzte notwendig<br />
wurde. Natürlich gab es in diesem System<br />
weniger Wahlmöglichkeiten als in den alten<br />
Bundesländern, aber es hatte auch den unbestreitbaren<br />
Vorteil der größeren Übersichtlichkeit<br />
und der stärkeren Kooperation zwischen<br />
den Erbringern unterschiedlicher medizinischer<br />
Leistungen.<br />
Das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik<br />
weist im internationalen Vergleich einen beson<br />
ders hohen Grad an Fragmentierung auf, d. h.<br />
die häufig hoch spezialisierten Leistungen werden<br />
von unterschiedlichen Personen in verschiedenen<br />
Einrichtungen erbracht, unter denen<br />
es nur selten Zusammenarbeit, sondern in<br />
der Regel nur die vorgeschriebene briefliche<br />
Kommunikation gibt. Das mag für eine Vielzahl<br />
vorübergehender Krankheiten relativ unerheblich<br />
sein, wird aber zu einem deutlich erkennbaren<br />
Problem im Falle von Familien mit behinderten<br />
Kindern und bei anderen Formen komplexer<br />
Morbidität (vgl. X.3.4).<br />
Die Vielzahl der professionellen Ansprechpartner<br />
sowie die stark von den Massenmedien<br />
mitbestimmte Kommunikation über Gesundheitsfragen<br />
bewirkt bei den gesundheitsbewußten<br />
Teilen der Bevölkerung häufig eine widersprüchliche<br />
Informationslage, die auch der<br />
gesundheitlichen Aufklärung abträglich ist.<br />
Immer wieder stellt sich die Frage, als wie<br />
authentisch bestimmte Erfahrungen, als wie<br />
begründet bestimmte Empfehlungen anzusehen<br />
sind. Insbesondere die massenmedial vermittelte<br />
Information — von verbandlichen Stellungnahmen<br />
bis zur Werbung — läßt einen<br />
hohen Grad an Interessenbesetzung vermuten.<br />
Abgesehen von dem heute mit den häuslichen<br />
Verhältnissen meist auch nicht mehr vertrauten<br />
,Hausarzt', fehlt es in der Bundesrepublik weitgehend<br />
an als unabhängig und glaubwürdig<br />
geltenden und der Bevölkerung zugänglichen<br />
Einrichtungen der Information und Gesundheitsberatung,<br />
vergleichbar etwa den Verbraucherzentralen<br />
mit Bezug auf die Konsumentenberatung<br />
(vgl. Expertise Grunow). Ebenso fehlt<br />
es an einer beruflichen Spezialisierung im Sinne<br />
z. B. der englischen Familienpflegerinnen, deren<br />
Ratschläge vor Ort gegeben und umgesetzt<br />
werden können. Dieser Mangel wird insbesondere<br />
in den neuen Bundesländern spürbar, wo<br />
durch die Umstrukturierung des Gesundheitswesens<br />
und die erweiterte Palette der therapeutischen<br />
Möglichkeiten erhebliche Orientierungsschwierigkeiten<br />
bestehen.<br />
Allerdings handelt es sich hier nicht bloß<br />
um glaubwürdige Informationsvermittlung. In<br />
Frage steht hier vielmehr das Verhältnis von<br />
professionellem und lebensweltlich bedeutungsvollem<br />
Wissen. Das medizinische Wissen<br />
wird immer umfangreicher und spezialiserter<br />
und verliert gerade deshalb an alltäglicher<br />
Bedeutung. Seine öffentliche Autorität entwertet<br />
jedoch gleichzeitig die traditionellen Formen<br />
des Gesundheitswissens, wie sie häufig früher<br />
von Mutter zu Tochter weitergegeben wurden.<br />
Die Autorität von Ärzten, welche die alltäglichen<br />
Probleme ihrer Patienten nicht mehr kennen,<br />
vermag das ,Laienwissen' in der Regel<br />
nicht zu ersetzen. Hier liegt ein großer Vorteil<br />
des Austausches zwischen Menschen mit ähnlichen<br />
Schwierigkeiten und Problemen, wie es<br />
beispielweise in Selbsthilfegruppen stattfindet.<br />
Die weitgehende Trennung von professioneller<br />
Hilfe und Selbsthilfe verhindert jedoch eine<br />
wechselseitige Befruchtung (vgl. Badura/v. Ferber<br />
1981; v. Ferber/Badura 1983).<br />
Orientie<br />
rungs<br />
schwierig<br />
keiten in<br />
Gesund<br />
heits<br />
fragen