Fünfter Familienbericht - Deutscher Bundestag
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Drucksache 12/7560<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode<br />
Krankma<br />
chender<br />
Streß<br />
Bedeu<br />
tung der<br />
Familie<br />
für die Be<br />
wältigung<br />
von Bela<br />
stungen<br />
durch die Verarbeitung zahlreicher Umwelteinflüsse<br />
und durch die Überwindung von Schwierigkeiten<br />
bei der Verfolgung eigener Ziele.<br />
Diese Beanspruchung gilt grundsätzlich als<br />
gesund, ja die Leistungsfähigkeit stimulierend<br />
und erhaltend, solange sie nicht zu einer Überforderung<br />
des Organismus oder der Psyche<br />
führt. Die Fähigkeiten zur Verarbeitung von<br />
Belastungen sind zum einen abhängig von<br />
grundlegenden körperlichen (Resistenz) und<br />
psychischen (Invulnerabilität) Dispositionen,<br />
aber auch von den Möglichkeiten, Unterstützung<br />
aus der eigenen sozialen Umwelt zu mobilisieren.<br />
Dabei werden in der Regel zwei Hauptarten<br />
der Unterstützung unterschieden, nämlich<br />
eine psychische oder emotionale Unterstützung,<br />
die sich in Zuwendung, Anerkennung, Trost,<br />
Ermunterung u. ä. ausdrückt, und eine instrumentelle<br />
Form der Unterstützung, welche sich<br />
beispielsweise in konkreten Hilfeleistungen,<br />
aber auch in Ratschlägen und Informationen<br />
ausdrückt. Personen, auf die im Bedarfsfalle für<br />
derartige Unterstützungsleistungen zurückgegriffen<br />
werden kann, sind eine soziale Ressource;<br />
gehören die Personen dem gleichen<br />
Haushalt an, spricht man von internen, gehören<br />
sie verschiedenen Haushalten an, von externen<br />
Netzwerkressourcen.<br />
Für das Entstehen von Überlastungserscheinungen<br />
sind jedoch nicht allein die objektiven<br />
Belastungen und Entlastungen, sondern vor<br />
allem ihre kognitive und emotionale Verarbeitung<br />
maßgebend. Krankmachender Streß entsteht,<br />
wenn sich Menschen ihren Aufgaben oder<br />
bestimmten Situationen nicht mehr gewachsen<br />
fühlen, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen,<br />
wenn sie sich als Opfer von Verhältnissen erfahren,<br />
die sie nicht glauben beeinflussen zu können,<br />
wenn sie im wörtlichen Sinne trostlos sind.<br />
Deshalb spielen auch kulturgebundene Einstellungen<br />
eine erhebliche Rolle: Wahrscheinlich<br />
bewirkt der Rückgang der religiösen Bindungen<br />
einerseits und die Verbreitung einer Ideologie<br />
des Erfolges und der Machbarkeit andererseits,<br />
daß Situationen des eigenen Versagens oder der<br />
nicht beeinflußbaren Übermacht der Verhältnisse<br />
heute im Durchschnitt schwerer ertragen<br />
werden als früher. Auch scheinen heute häufig<br />
überhöhte Erwartungen an das Glückspotential<br />
von Familien gerichtet zu werden; dann wirkt<br />
das unvermeidliche Konfliktpotential des familiären<br />
Alltags besonders belastend.<br />
Neuere Forschungen (McCubbin/Patterson<br />
1983, Herlth 1988) weisen darauf hin, daß sich<br />
Familien nicht nur hinsichtlich ihrer Fähigkeit,<br />
mit Belastungen umzugehen, unterscheiden,<br />
sondern auch hinsichtlich ihrer Fähigkeit des<br />
Umgangs mit einmal infolge einer Überforderung<br />
eingetretenen Krisen. Je nachdem, ob<br />
Familien erfolgreich oder erfolglos mit eingetretenen<br />
Krisen umgehen, stärkt oder schwächt<br />
sich ihr Zusammenhalt und ihre Anpassungsfähigkeit.<br />
Die Funktionsfähigkeit von Familien ist<br />
also nichts Statisches, sondern von ihrer eigenen<br />
Geschichte mit abhängig. Die Stabilität von<br />
Familien kann sich durch die Überwindung<br />
belastender Situationen und Krisen steigern,<br />
aber auch schwächen.<br />
-<br />
Die inzwischen weit entwickelte Netzwerkforschung<br />
macht ebenso wie die Forschung über<br />
Streßbewältigung deutlich, daß den Familienangehörigen<br />
zentrale Bedeutung im Rahmen<br />
der für möglich gehaltenen und tatsächlich<br />
erbrachten Unterstützungsleistungen zukommt<br />
4). Das größte Gewicht haben die Haushaltmitglieder,<br />
aber auch sonstige nahe Verwandte<br />
(Eltern, Geschwister, Kinder) gehören<br />
zu jenen Personen, von denen verschiedene<br />
Arten der Unterstützung erwartet und angefordert<br />
werden können. Andere Personen (Nachbarn,<br />
Freunde, Arbeitskollegen, die Vertreter<br />
bestimmter Professionen oder sozialer Dienste)<br />
werden in der Regel jeweils nur in sehr spezifischen<br />
Hinsichten als potentielle oder aktuelle<br />
Netzwerkressource wahrgenommen. Die Haushaltmitglieder<br />
und die im Rahmen der Kernfamilie<br />
verbundenen Personen bilden eindeutig<br />
das größte Unterstützungs- und Entlastungspotential.<br />
Dies besagt allerdings nicht, daß solche<br />
Unterstützung stets gewährt wird. Familiale<br />
Unterstützungsleistungen sind ihrerseits um so<br />
weniger wahrscheinlich, je höher die Belastung<br />
der Familien durch externe oder interne Stressoren<br />
ist. Die Unterstützungsleistungen sind<br />
also selbst ein Bestandteil der Anpassungs- und<br />
Bewältigungsfunktionen des Familiensystems,<br />
das ebenso überfordert werden kann wie das<br />
Individuum.<br />
Die Familie muß deshalb auch aus der zweiten<br />
Perspektive, nämlich als Stressor betrachtet<br />
werden. Streß entsteht in Familien zunächst aus<br />
den Beziehungen der Familienmitglieder untereinander,<br />
insbesondere in der Paarbeziehung<br />
und der Eltern-Kind-Beziehung. Von großer<br />
Bedeutung ist das Ausmaß und die Wahrnehmung<br />
von Gewaltsamkeit in Familien. Gewaltsamkeit<br />
tritt häufig als Element der meist unvermeidlichen<br />
Konflikte in Familien auf, sie kann<br />
aber auch als sexuelle Gewalt auftreten, insbesondere<br />
auch unter dem Gesichtspunkt der<br />
sexuellen Ausbeutung von Kindern (vgl. Honig<br />
1993; Expertise Rothe) (vgl. Kapitel III. 5.4).<br />
Typische Belastungen der Paarbeziehung beziehen<br />
sich auf die fehlende Reziprozität im<br />
Geben und Nehmen, auf die Unfähigkeit oder<br />
Unwilligkeit zu affektiven Beziehungen, auf<br />
fehlende Akzeptanz des Selbstbildes des Partners<br />
oder auf Konflikte in der familiären Arbeitsteilung<br />
(Pearlin 1987, S. 61). Die Konflikte<br />
zwischen Eltern und Kindern sind ihrer Art und<br />
ihrem Inhalt nach in erheblichem Maße vom<br />
Alter der Kinder abhängig und lassen sich<br />
weniger leicht typisieren. Im Schulalter scheinen<br />
es jedoch vor allem Leistungsprobleme in<br />
der Schule zu sein, die immer wieder zu Auseinandersetzungen<br />
Anlaß geben und zu den größten<br />
Belastungsfaktoren der Jugendlichen gehören<br />
(Engel/Hurrelmann 1989).<br />
4) Vgl. Pearlin/Turner 1987; Kaufmann u. a. 1989;<br />
Badura 1989, S. 656 ff.<br />
Familie<br />
als Streßfaktor