MARXISMUS & GEWERKSCHAFTEN - MARX IS MUSS 2013
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Die Klassenkämpfe in Europa 279<br />
men heraus. Deshalb ist es von großer Bedeutung, in welcher Verfassung sich die<br />
Arbeiterklasse zum Zeitpunkt des Beginns einer Krise, in deren Verlauf sie mehr<br />
oder weniger Selbstbewusstsein für den Kampf entwickelt, befindet. Trotzki sagte<br />
dazu: »Die Auswirkungen einer Krise […] sind von der politischen Gesamtsituation<br />
und von den Ereignissen, die der Krise vorausgehen und sie begleiten,<br />
bestimmt, insbesondere den Kämpfen, Erfolgen oder dem Scheitern der Arbeiterklasse<br />
im Vorfeld der Krise.« 35<br />
Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine festgefügte Arbeiterklasse, die<br />
an Selbstbewusstsein gewinnt oder zunehmend besser organisiert ist. Mit der regelmäßig<br />
stattfindenden Umstrukturierung des Kapitalismus werden alte Hochburgen<br />
der Arbeiterklasse geschleift und neue Arbeiter in neue Bereiche hineingezogen.<br />
Es erfordert meistens Zeit und das Sammeln von Erfahrungen mit Arbeitskämpfen,<br />
damit solche Arbeiterschichten das für den kollektiven Kampf<br />
nötige Selbstbewusstsein und den Organisationsgrad erreichen und damit auch<br />
noch vorhandene ältere Gruppen wieder Selbstbewusstsein schöpfen.<br />
Der dritte unserer Kampfzyklen, der Ende der 1960er Jahren begann, folgte einer<br />
langen Wachstumsphase, die in vielen fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten<br />
zur Entstehung und Entwicklung neuer Klassenkräfte geführt hatte – oft als<br />
Ergebnis lokaler und spartenbezogener Kämpfe für bessere Löhne oder Arbeitsbedingungen,<br />
in denen Kapitalisten und Regierungen häufig klein beigaben. In<br />
Großbritannien waren in der Phase vor 1972 etwa 95 Prozent aller Streiks »wilde«<br />
Streiks und ein eindrückliches Beispiel für den »Do it yourself«-Reformismus,<br />
wie der britische Sozialist Tony Cliff es nannte. In Frankreich kam es in den zwei<br />
Jahren vor dem Generalstreik des Jahres 1968 zu »Arbeitskämpfen begleitet von<br />
schweren Auseinandersetzungen« und »Warnstreiks bis zu eintägigen Generalstreiks«,<br />
die vom Gewerkschaftsbund CGT organisiert wurden. Die Zahl der<br />
Streiktage stieg von knapp unter einer Million im Jahr 1965 auf über vier Millionen<br />
schon im Jahr 1967. 36<br />
Trotz dieser Anzeichen setzten viele zeitgenössische Kommentatoren das Fehlen<br />
revolutionärer Aufstände wie in den Zwischenkriegsjahren mit der mangelnden<br />
Fähigkeit der Arbeiter gleich, die Gesellschaft zu verändern. Die neuen<br />
»Wohlstandsarbeiter« der Autofabriken und ähnlicher Industrien waren angeblich<br />
mehr daran interessiert, Konsumgüter zu erwerben, als zu streiken. Der linke<br />
französische Theoretiker André Gorz erklärte bekanntermaßen im Frühjahr<br />
1968, dass es »in absehbarer Zukunft keine so dramatische Krise des europäischen<br />
Kapitalismus geben wird, die Massen von Arbeitern in revolutionäre Generalstreiks<br />
treiben könnte«. 37 Doch als die entstehenden Klassenkräfte mit ei-<br />
35<br />
Trotsky, 1974, S. 76.<br />
36<br />
Cliff, 1985.<br />
37<br />
Zitiert in Harman, 2008, S. 18.