Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

und gerodet. Beim Näherkommen bemerke ich
die kräftige Blütenpracht, die in aufstrebenden
Pyramiden die äußeren Äste schmückt. Auf dem
Boden ein paar starke, gelbe Blütenkugeln,
perfekt geschlossen bewachen sie die Pollen.
Daneben hat sich im Verwelken und Sterben eine
Blüte geöffnet, zeigt die in der Kugel geborgenen
Bürstchen, ein hochkomplexer Apparat. Zwei sich
überlappende Blütenhälften umschließen,
komplett wie ein Ball, die Blütenknospe. Um ins
Innere der Kugel zu gelangen, muss die obere
Haube regelrecht hochgestemmt werden, was
nur starken, sozusagen auf Kastanienblüten
spezialisierten Bienenweibchen gelingt. Zwängt
sich nun so eine Biene zwischen Haube und
Blütenblättern durch, wird sie für ihre
Herkulesarbeit mit leckerem Nektar belohnt,
nimmt als Gegenleistung ein Pollenstaubbad.
Diese Pollen trägt sie dann, sie fliegt an einem Tag
bis zu 20 km weit und befruchtet damit anderer
“Castanheiras”. Paranussblüten sind
Eintagesblüten. Sie öffnen sich in den frühen
Morgenstunden, um am Nachmittag schon zu
Boden zu sinken.
Fingerübungen der Natur, eine hochkomplexe
Spielerei voller Verflechtungen und Symbiosen.
Die männliche Biene verschmäht
Kastanienbäume, ernährt sich einzig und allein
von einer spezifischen Art Orchideen. Wenn sie
sie bestäubt, liefert ihr die Orchidee einen
aromatischen Nektar, den wiederum weibliche
Bienen anzieht.
Hier, dem Reststück Dschungel sei Dank, ist der
Zyklus intakt. Aus der befruchteten Blüte bildet
sich der „Oriço“, ein steinharter, kanonenkugliger
Ball. Wie ein Geschoss fällt er nach 14, 15
Monaten auf den Boden, wo ihn die
Paranusssammler zusammen tragen. In der
extrem harten Kugel sind 10 bis 25 Samen, die
Paranüsse, auch sie von harten Schalen
umschlossen, eingebettet - die Paranuss geizt mit
ihrer Frucht, denn da wo sich bei anderen
Nusskugeln einfach ein Deckel loslöst und die
Nüsse freigibt, gibt es bei der Kastanienkugel nur
eine kleine Öffnung. Nur die starken Nagezähne
der „Cotia“, des Agutis (Dasyprocta aguti), ein
überall präsentes, kleines Nagetier, mit dem
Meerschweinchen verwandt, das seinen
rundlichen Körper mit dem rötlich braunen Fell auf
kurzen flinken Beinchen hierhin und dahin bewegt,
gelingt es, die Kugeln zu knacken. Ein tropisches
Eichhörnchen versteckt und vergisst es einen Teil
der Beute und „pflanzt“ so unzählige neue Bäume.
Kantig und schwer, die Schale gefurcht, liegt die
Nuss in meiner Hand. Der Verkäufer schlägt mir
mit dem riesigen Buschmesser, immer scharf an
seinen Daumen vorbei, eine Nuss auf. Wenn sie
ganz frisch sind, “Castanhas de leite”,
Milchkastanien, sind die Nüsse sehr weiß und von
delikatem, nussigem Geschmack. Das Nussaroma
klickt etwas in meiner Erinnerung an. Genau so
eine Nuss hat uns immer der Nikolaus gebracht!
Wenn er, endlich, zum Schluss seinen prallen
Jutesack ausschüttete, lag sie zwischen den
Mandarinen und den Mandeln, mischte sich
unter die Hasel- und Baumnüsse. Das war sie
also, eine exotische Paranuss, so fern und so nah.
Ihre Majestät die Kastanie ist ein Symbol für den
globalen Handel. Ein Symbol auch der absurden
Komplexität und Verwundbarkeit des
amazonischen Tropenwaldes. Ob es wohl
zukünftigen Forschergenerationen irgendwann
einmal gelingen wird, alle seine Rätsel zu
entschlüsseln?
Amazonien, ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata 147