Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

einstudierte Choreografie. Einer der beiden Bois
wird dann nach übervollen drei Tagen Show von
einer Jury zum Gewinner auserkoren. Die
Touristen kommen aus dem Süden Brasiliens und
wollen die lokalen Schönheiten von Alter do Chão,
bis jetzt nur ein paar Kreuzfahrtschiff- und
Rucksacktouristen bekannt, nicht verpassen. Kein
Problem, dass zu dieser Jahreszeit Dreiviertel der
berühmten Insel unter Wasser ist.
Am nächsten Tisch sprechen die Professoren der
neuen staatlichen Universität schon beim
Frühstück über nichts anderes als ihre Projekte
und die damit verbundene Bürokratie. Heute
beginnt auch der regionale Kongress der
Grundschullehrer. Die Teilnehmer sind in der
Mehrzahl deutlich einfacher Herkunft, ach, hier ist
ja auch die Nonne in vollem Ornat, die gerade drei
Stunden mit dem selben Boot hierhergefahren ist.
Alle, Frauen und Männer, unterstreichen
wortstark mit jeder Geste ihren pädagogischen
guten Willen.
Während sie an der Rezeption verzweifelt den
Schlüssel unseres neuen Zimmers suchen, er wird
magischerweise erst am nächsten Tag
auftauchen, wundere ich mich über die
überdimensionierte und kitschig Dekoration im
Stil grob behauener Baumstrünke, die als
Sofatische dienen und einer modisch
karnevalesken Interpretation lokaler Klischees.
Hinter der Empfangstheke die in viele Hotels
üblichen vier Uhren auf knallorangem Grund, die
neue Hotelfarbe. Entblößen eine überaus
interessante Sicht der Welt, zeigen sie doch die
Uhrzeiten von Santarém, Brasília, New York und
Madrid an.
Wieder beim Frühstück holt mich der Kellner in die
reale Realität zurück. Nennt mich „Querida“, mein
Liebling, was ich nicht gerade passend finde.
Später setzt er sich, eine kleine Pause ist fällig, zu
seinem Kollegen an die Bar, um sich von der
Rennerei etwas auszuruhen. Keinen stört es, dass
seine Kollegin beim Servieren Kaugummi kaut.
Aber auch die Gäste mögen es informell. Fragt
doch einer im Gang unverblümt das Zimmermädchen,
ob sie ihm nicht jemand empfehlen
könne, der ihm ein paar Shirts wasche, was gerne
bejaht wird. Der Waschservice des Hotels ist ihm
wohl zu teuer.
Tatendurstig will ich nun aber endlich die reale
Realität kennenlernen. Falls ich kein Taxi möchte,
könnte ich in der Bruthitze stundenlang auf den
lokalen Bus warten, oder, ein ganz alternatives
Programm, einfach zwei, drei Kilometer zu Fuß
gehen, Hut und Sonnenschutz nicht vergessen!
Oder –aber halt - das ist schon zu alternativ,
ironisch und vielleicht gar etwas gefährlich,
einfach die andere Seite der autobahnartigen
Rampe vor dem Hotel hinunterrollen und mein
blaues Wunder erleben, sozusagen in die Realität
fallen, „caír na real“, wie man so schön auf
Portugiesisch sagt. Gleich am Fuß der Rampe
beginnt nämlich der wirkliche Amazonas. Aber
die „Realidade“, giftgrün angestrichen, hat leider
so früh noch nicht geöffnet - Realidade ist der
stilvolle Name einer etwas eruntergekommenen
Bar!
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