Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Manaus große alte Lady, das Theater
Scheint erst vor kurzem gewesen zu sein, als wir
uns hier ein wunderschönes Konzert anhörten.
Die kleine Warteschlange, sie rührte sich nicht
vom Fleck, hielten wir geduldig aus. Der Sitzplatz
aus rotem Velours im Theater Amazon, dem
Postkartenmotiv von Manaus, war gratis!
Immer wenn ich zurückkomme, bewundere ich
diese alte Dame, Zeugin und Symbol der kurzen,
glamourösen Hochblüte des Kautschuks. Es muss
eine unglaubliche Zeit gewesen sein!
Manaus, Tage und Tage den Amazonas hoch,
wurde zwar 1669 gegründet, aber erst 1848 zur
Stadt erklärt. Schon ab 1840 setzte hier der
Kautschukboom ein. Manaus entwickelte sich
bald zu einem blühenden Umschlagplatz, zur
wichtigen Sammel- und Lagerstation der
Kautschukballen. In Reiseberichten kann man
lesen, dass sie die ganze Stadt mit ihrem
charakteristischen Duft imprägnierten. Manaus
war eine aufblühende Stadt im Urwald, in den
tropigsten Tropen, ein Anachronismus in sich,
aber auch ein Stück hart erkämpfter Zivilisation, in
die man sich flüchten konnte, wenn das Leben
draußen zu unwirtlich war. Man kann nachlesen,
dass Manaus und Belém auf dem Höhepunkt des
Kautschukbooms die modernsten, fortschrittlichsten
und am meisten kommentierten
Städte Brasiliens waren. Sie waren so modern und
fortschrittlich, dass sie von den ersten waren, die
elektrisches Licht und Straßenbahnen
installierten. Symbole des Fortschritts, noch
symbolträchtiger und gewichtiger, wenn man
bedenkt, dass Brasilien zu dieser Zeit eine reine
Agrarnation war. Gerade 70 Jahre vorher hatte die
Öffnung der Häfen für befreundete Nationen
stattgefunden. Der portugiesische Kaiser Don João
VI war 1808 vor den Truppen Napoleons in die
Kolonie geflüchtet. Er brachte nicht nur eine
riesige Bibliothek mit sich, sondern errichtete in
der bis dahin in allen Belangen von Portugal
gegängelten und komplett abhängig gehaltene
Kolonie die ersten Universitäten, eine Presse und
eine Staatsbank, die Banco do Brasil.
Der ganze Boom hatte seine Wurzeln in Europa.
Die Industrielle Revolution funktionierte wie eine
Lokomotive, die den Fortschritt anheizte. Sie
verlangte nach tausenderlei Neuendwicklungen,
eine davon Latex, Gummi. Es war Charles
Goodyear gelungen, in einem speziellen
Vulkanisierungsverfahren den Gummireifen zu
entwickeln, der nun die Gummiproduktion und
damit das ganze Amazonasbecken in den Blick der
Welt rückte. Es ging Schlag auf Schlag. 1866 ging
die Schifffahrt auf dem Amazonas in die Hände der
Engländer und Amerikaner über. Die Nachfrage
nach dem Rohprodukt Kautschuk, extrahiert mit
primitivsten Methoden mitten aus dem
Regenwald, explodierte. Wer auf Kautschuk setzte,
konnte mit astronomischen Gewinnen rechnen.
Das wirkte wie ein Magnet auf viele Immigranten,
reiche und arme, Abenteurer, Ausländer und
Brasilianer. Nach 1877 emigrierten Millionen von
„Nordestinos“, besonders aus Ceará im
brasilianischen Nordosten in den Amazonas. Sie
flohen vor den schrecklichen Dürren, unter denen
ihr Staat immer wieder litt. Sie wurden vom
riesigen Ungeheuer Tropenwald verschlungen,
absorbiert - höchst willkommen als „Seringeirios“,
Gummizapfer, eine Art Unterhunde, auf der
untersten Stufe der Produktionskette. In ihrer
gepeinigten Heimat hatten sie außer ihrem Leben
nicht viel zu verlieren.
Zudem war Brasilien war gerade dabei, sich
endgültig von der Sklaverei zu befreien. (Das
Gesetz des „Lei do Vente livre“ datiert von 1871
und das Ende der Sklaverei wurde endlich 1888
mit dem Lei Áurea verkündet). So wurden diese
Immigranten zu Kautschukarbeitern ohne jegliche
Rechte. Extrativistische, vorindustrielle
Sammlertätigkeit, unter Lebensgefahr ausgeübt,
erwartete sie. Quellen bestätigen, dass das Leben
eines Gummiarbeiters oft gar noch schlimmer
gewesen sein soll als das eines Sklaven,
besonders, wenn man die Risiken dazu rechnet,
denen er mitten im Dschungel ausgesetzt war.
Dem Kautschukboom aber versetzte der clevere
Engländer Henry Wickhamm, aber schon bald den
Todesstoß. Er schmuggelte, illegal natürlich,
Gummibaumsamen nach England, wo sie in Kew
Garden, dem königlichen Botanischen Garten
Amazonien, ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata 672