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Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

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Fast im Paradies<br />

Fast wähnt man sich im Paradies. Oder ist das hier<br />

<strong>ein</strong> Stück Europa mitten im Amazonas? Weiße,<br />

hochb<strong>ein</strong>ige Rinder, Nelore, <strong>ein</strong>e Mischung<br />

europäischer <strong>und</strong> indischer Rassen, grasen auf<br />

grünen Weiden. Dazwischen wie hingestreut <strong>ein</strong><br />

paar streng geometrische Holzhäuschen,<br />

winkende Menschen, magere, aber glückliche<br />

Mistkratzer, <strong>ein</strong> schwarzrosa Schw<strong>ein</strong>, zwei<br />

Straßenköter.<br />

Schau mal, <strong>ein</strong>e hölzerne Kirche! Wie viele Häuser<br />

hier ist sie auf Pfählen errichtet. Die Wasser<br />

steigen <strong>und</strong> fallen hier im Jahreszyklus <strong>und</strong> die<br />

Hochwasser können ihr schon mal den Boden<br />

lecken. Quadratisch, rustikal, so liebevoll roh aus<br />

Brettern zusammengefügt, dass sie mit ihrer<br />

vorgesetzten Fassade eher an <strong>ein</strong>e Theaterkulisse,<br />

<strong>ein</strong>en Schattenriss, gar an <strong>ein</strong> potemkinsches Dorf<br />

als <strong>ein</strong> Gotteshaus erinnert. Daneben <strong>ein</strong>ige<br />

Häuser, auch auf Pfählen, Kanus, lächerlich kl<strong>ein</strong>,<br />

manche aus <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Baumstamm<br />

geschnitzt <strong>und</strong> größere, bullige Schiffe mit<br />

flachem Kiel, am Ufer verankert. Der Fluss schiebt<br />

sich träge dahin, stattlich. Hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong>e<br />

r<strong>ein</strong>weiße Landzunge, <strong>ein</strong>same Buchten mit<br />

blendenden Sandstränden. Wähne mich irgendwo<br />

in Europa, wenn, ja wenn, da nicht dieses Paar<br />

träger Augen wäre. Augendeckel nur, gelbgrüne<br />

beschattete Sterne, die sich lautlos durchs Wasser<br />

schieben – <strong>ein</strong> Krokodil! Wir sind mitten in <strong>ein</strong>em<br />

sehr schönen Stück Amazonas, auf dem Kanal<br />

„Jari“, der bei Santarém den Tapajós mit dem<br />

Amazonas verbindet. Die Jahreszeit sei die beste.<br />

Die endlosen Sandstrände der Flüsse liegen frei,<br />

später, in der Jahresmitte, werden sie alle unter<br />

dem ansteigenden Wasserspiegel verschwinden.<br />

Treffe diese Urkirchen immer wieder, zu Wasser<br />

oder zu Land. Sch<strong>ein</strong>en sich alle irgendwie<br />

verblüffend ähnlich. Wie <strong>ein</strong>e der anderen<br />

abgeschaut, von<strong>ein</strong>ander kopiert oder geklont, alle<br />

vom selben Baumeister gezeichnet <strong>und</strong><br />

hochgezogen. Wie wenn <strong>ein</strong>e zentrale<br />

Kirchenstelle für fast alle Kirchen des<br />

amazonischen Hinterlandes das selbe Muster, <strong>ein</strong>e<br />

identische Form festgelegt hätte. Wohl aber eher<br />

lokalen Handwerkern anvertraut, die in naiver<br />

Freiheit <strong>ein</strong>fach jenes Gotteshaus nachbauen, das<br />

sie aus ihren inneren Bildern kristallisieren. Die<br />

<strong>ein</strong>zelnen Kirchl<strong>ein</strong> sind sorgfältig <strong>und</strong><br />

demokratisch auf die unterschiedlichsten<br />

Abspaltungen katholischer <strong>und</strong> evangelischer<br />

Kirchen verteilt, jede entsprechend identifiziert.<br />

Berührend schön, schmucklos, oft gar flach. Die<br />

charakteristischen Kirchtürme oft nicht mehr als<br />

<strong>ein</strong>dimensionale Scherenschnitte, hoch aus der<br />

flachen Holzfassade herausgeschnitten, immer<br />

den Wassern zugewandt. Normalerweise zwei,<br />

manchmal gar drei Türme, immer von simpelsten<br />

Kreuzen überragt, <strong>ein</strong>fach vor <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>fachen<br />

Quader, das Kirchenschiff, gestellt. Ihr kalkiges<br />

Weiß oder ausgewaschenes Blau hebt sich klar von<br />

den hohen, weiten Himmeln ab, an denen schon<br />

die nächsten Gewitter drohen.<br />

Kinderzeichnungen, Scherenschnitten gleich sind<br />

sie auf die allertypischsten Elemente reduziert,<br />

verzichten auf Vorsprünge, Balustraden oder<br />

andere dekorative Elemente, die ihnen etwas<br />

Tiefe oder Dreidimensionalität verleihen würden.<br />

Ihre Einfachheit <strong>und</strong> Rustikalität erinnert an Exvotos,<br />

von rauen Händen gezimmert <strong>und</strong><br />

kunstvoll mit <strong>ein</strong> paar Resten Farbe bemalt.<br />

Plötzlich wie <strong>ein</strong> Theatervorhang fällt die Nacht<br />

her<strong>ein</strong>. Schon länger haben wir angelegt. Die<br />

Hitze allerdings hat noch k<strong>ein</strong> Grad nachgelassen,<br />

es ist gut möglich, dass sie die ganze Nacht durch<br />

anhält. Wer sagt denn, dass man im Paradies<br />

nicht schwitzen muss?<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 299

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