Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Chico, der Schlangenflüsterer
Mit den Schlangen, die ihm seinen Namen geben,
und anderen hochgiftigen Tieren hat Francisco,
Chico das cobras, nur indirekt Kontakt. Doch Chico
kennt sich aus. Mit Schlangenbissen genauso wie
mit den Stichen der Stachelrochen, Spinnen oder
Skorpionen. Chico heilt sie alle. Er hat einen
Zaubertrank, eine Garrafada, das Gegenmittel.
Orangefarben, etwas trübe füllt sie, die
geheimnisvolle Flüssigkeit die Styroporkiste. Sei
sehr lange haltbar, unfehlbar, ein Familienrezept,
streng gehütet, vom Vater auf Chico, Francisco,
den Schlangenflüsterer übergegangen.
Die Liste der giftigen Tiere im Amazonas ist lange,
komplex und verheerend. Darin sind sich alle
einig, die Caboclos und auch die Schulmediziner.
Letzteren hat Chico viel voraus, will man seinen
Erzählungen Glauben schenken. Er zeigt offizielle
Statements vor, Bittschriften und Petitionen
voller Stempel und prunkvollen Unterschriften.
Der offiziellen Anerkennung steht allerdings eben
jenes Familienrezept im Weg. Es wirke, aber
offenlegen will er die Zusammensetzung, die
Kräuter, die es enthält um nichts in der Welt. In
seinen Erzählungen schwingt Trotz mit und man
hört Frustration heraus. Zu viele Hürden trennen
den „ungebildeten“ Kräuterdoktor und
Medizinmann vom instruierten Mediziner.
Die Begegnung mit Chico, dem Schlangenflüsterer
wirft ethische, ethnische, medizinische und
ethnologische Fragen auf. Fakt ist: Bei Bissen oder
Stichen in freier Wildbahn hoch im Amazonas ist
die Schulmedizin bis heute eher schlecht gerüstet.
Jede Schlangenart z.B. hat ihr ganz individuelles
Serum, das nur wirkt, wenn das Tier richtig
identifiziert wird. Und es dem Patienten gelingt,
bis ins nächste Krankenhaus zu gelangen. Sticht
ein Stachelrochen zu, ist das zwar nicht tödlich,
aber extrem schmerzhaft. Die Schulmedizin kann
dann nur abwarten, den Schmerz unterdrücken
und die Schwellung medikamentös zum Abschwellen
bringen.
Und genau da kommt Chico ins Spiel. Er lebt in
Obidos, einem jener Vorposten der amazonischen
Welt. Bis hier ist die Gesundheitsvorsorge noch
nicht mit ihrem ganzen Spektrum vorgedrungen.
Und mancher war schon froh, dass es ihn gibt.
Chicos Geschichte erinnert in vielem an „Específico
pessoa“, ein Kräuteraufguss der genauso wie der
von Chico, neben Schlangenbissen und
Skorpionstichen noch viel mehr heilen soll. In den
brasilianischen Hinterlanden fehlt „Específico
pessoa“ in keiner Hausapotheke. Einfache Leute
aus dem Amazonas und aus Brasiliens Nordosten
schwören darauf.
Daraus hat sich ein Zweifronten Krieg entwickelt,
der Ethnobotanik wohlbekannt: Chemiker und
Ärzte beweisen, dass der Trank keinerlei Wirkung
habe. Einfache Leute erzählen von den unvorstell-
barsten und wundersamsten Heilungsverläufen.
Wie auch immer. Ein weiterer Fakt ist, dass die
Biodiversität der südamerikanischen
Regenwälder ein unbekannter, ungehobener
Schatz ist . Der tropische Wald ist reich an
aromatischen und medizinischen Pflanzen, deren
Gebrauch von Generation zu Generation
überliefert wurde. 1993 hat Brasilien in Rio,
zusammen mit 192 anderen Ländern, eine
Biodiversitäts-Konvention unterzeichnet, ein
weltweiter Akkord der nachhaltigen Nutzung.
Eine Regelung der Nutzung ist umso wichtiger,
als bis heute nur 11 % der in Brasilien
existierenden Flora und Fauna, des technisch als
genetisches Erbe klassifiziert, katalogisiert sind.
Das wirft unendlich viele unbeantwortete Fragen
auf. Chico, Nachfahre von Idigenen, sagt er heile
Schlangenbisse und die Wunden anderer giftiger
Tiere mithilfe eines nur ihm bekannten Gebräus.
Er ist nicht bereit, sein Wissen offen zu legen. Er
reagiert, wie viele Heiler und Kräuterkundigen
mit Misstrauen. Bei der Heilung eines
Schlangenbisses handelt es sich um eine Art
Tabuthema, eine Grenzerfahrung, hochemotionell,
gemeinnisumworben und auch nicht frei
von Sensationslust.
Das ganze lässt sich auf ein paar Grundfragen
reduzieren. Wem gehört eine Pflanze und das
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