Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Vor die Hunde gegangen II
Er scheint mir zu folgen. Jedes Mal, wenn ich den
Blick schweifen lasse, drängt er sich irgendwo ins
Blickfeld. Schon gute fünfzehn Minuten nimmt er
den selben Weg, fast scheint es, als er mein Ziel
erahnt hätte. Sein gleichmäßiges Traben, der steil
erhobener Schwanz, Nase und Augen immer nach
vorne orientiert, weiß wohl sehr genau, wohin er
will. Er verkörpert im wortwörtlichen Sinn einen
Underdog. Einer jener Straßenköter, alle Viralatas,
Abfallkübeldreher, unbestimmter Rassen,
herrenlos (?), wie sie überall in der Stadt
anzutreffen sind.
Ockerfarben, mittelgroß - schau, da ist er wieder,
da weiter vorne! Riecht an ein paar Abfallsäcken,
markiert da einen vergessenen Haufen Bauschutt,
auf dem Bürgersteig entsorgt. Genauer betrachtet
ist nicht mal ausgehungert. Überquert clever die
Straße, ein Profi, so als wüsste er um die
Gefahren, die die Autos für ihn bedeuten. Stillt in
einer Pfütze oder der Gosse seinen Durst, da im
Straßengraben, da hat sich der Regen gestaut.
Nur kein falscher Tritt!
Die Hundemeute im frisch restaurierten Park,
eines der Postkartenmotive der Stadt dagegen, ist
wirklich dabei vor die Hunde zu gehen. Weder
Bedauern noch ein Anti-Wurmmittel können ihre
Probleme lösen. Es sind ihrer zu viele. Drei, nein
vier Straßenköter, verlaust, voller Würmer, so
mager, dass ihnen die Haut zwischen jeder Rippe
eine kleine Delle formt. Sie paaren sich hier auf
dem Platz. Ignorieren ihren jämmerlichen Zustand
einfach. Spielen, überleben, sich selber und dem
Zufall überlassen. An Müll und Abfall für
Straßenhunde fehlt es jedenfalls nie. Keinen
scheint es zu kümmern, dass sie nicht nur lebende
Kreaturen sind, sondern auch eine Gefahr für die
öffentliche Gesundheit. Könnten, unter anderem,
Zwischenwirte für die Mikrobe der Leishmaniose
sein, eine typische Tropenkrankheit, in deren
Kur/Heilung durch moderne Medikamente nie
wirklich investiert wurde. Eine andere Touristin
fotografiert fasziniert den Paarungsakt.
Schau nur! Da haben sie doch das alte Gebäude
des lokalen Fußballclubs Remo neu gestrichen,
blau mit fein gepinselten, weißen Linien! Ein
Überbleibsel der Belle Époque. Vor Kurzem noch
vernachlässigt, der Witterung preisgegeben, wie
der ganze, wunderschöne Komplex der Altstadt,
heruntergekommen, vor die Hunde gegangen.
Der Nieselregen, leicht wie ein Schleier, konstant
und lauwarm, setzt ein. Er scheint den
importierten Sträuchern besonders gut zu
bekommen. Sie stehen in voller Blüte. Die Dolden
in lebendigem Rot geben dem Platz etwas
Heiteres, verleihen ihm einen Hauch von Ordnung,
Fortschritt und Zivilisation. Geben ihm, streng und
geometrisch angepflanzt, gar ein gewisses Flair,
die künstliche Eleganz eines in die Tropen verirrten
französischen Gartens. Auf der ersten Stufe einer
Statue, da, im Zentrum des Platzes, liegen drei
identisch eingerollte Kugeln, eine dicht neben
der anderen. Der Stein, noch, blitzsauber,
strahlend weiß. Der Regen scheint den
flüchtigen, gleichgültigen Schlaf der drei
Straßenköter nicht zu beeinträchtigen.
Wünsche mir etwas von ebendieser
Gleichgültigkeit an diesem ersten Tag in Belém.
Ich will Geld abheben und sehe schon bald vor
mir eine Filiale meiner Bank. Der starke Regen
schreckt mich nicht mehr, aber die Szene, mit
der mich dieselbe beschenkt, doch sehr. Gut
beschützt vom schwungvollen Dach einer
modernen Rampe für Körperbehinderte, auf
einer großen, zurecht gerissenen Pape bequem
zurechtgesetzt, sehe ich ein Paar Obdachloser,
zusammen mit ihren wenigen Habseligkeiten,
unter ihnen auch ein Hund. Er hat gar, wie
vorsorglich, seine eigene Pappe abbekommen!
Ich stelle mir vor, wie er sich, dreimal an Ort und
Stelle im Kreis dreht, sich dann zufrieden darauf
niederlässt, so fürsorglich vor den endlos nieder
triefenden Wassern geschützt!
Eine verkehrte Welt: Die Reichen schicken ihre
Hunde zum Teufel, während die Underdogs, die,
die selber vor die Hunde gehen, den ihren umso
besser behandeln.
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