Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Der Portraitkult
Ungezählte Augenpaare blitzen mir gleich beim
Auseinanderfalten der frischen, sozusagen
jungfräuliche Lokalzeitung Beléms aus dem
Kulturteil zu. Es ist Schul- und Uniabschlusszeit!
Diplome, Auszeichnungen, Fotos, unendlich viele
Fotos! Nach amerikanischem Vorbild ist es sich
hier schon der simpelste Hauptschulabschluss
wert, Zeitungsseite um Zeitungsseite mit endlos
hintereinander gereihten Porträts zu schmücken.
Seite um Seite voller fast identischer, identisch
gestellten, zahnreihenentblößenden,
zahnspangengeschmückten Lächeln, auch die
Frisuren, besonders der Jungen, variieren kaum.
Hintergründe, Kleidung und die verschnörkelten
Rahmen wirken antiquiert, fast alle Abgebildeten
haben die hohen Backenknochen, die leicht
geschlitzten Augen und die seidig offenen
Schnittlauchhaare der lokalen Bevölkerung. Alles
was Rang und Namen hat, respektive Diplom
erreicht, erobert oder erkauft hat, wird
abgelichtet und vollfarbig gedruckt. Richtig
aufwendig wird es, wenn die teuren lokalen
Privatuniversitäten all ihre prunkvoll inszenierten
Register ziehen und die Schüler neben dem
öffentlichen Auftritt in der Zeitung auch
prachtvolle Erinnerungsalben erhalten.
Im mageren redaktionellen Teil der Zeitung
andere Porträts. Vielleicht etwas weniger
glänzend, aber genauso buntfarben und
aufmerksamkeit-heischend aufgenommen und
platziert, allerdings sozusagen unter gegenteiligen
Vorzeichen. Der Lokalteil trieft von Blut. Erschöpft
sich in Unfällen und Verbrechen. Es handelt sich
keineswegs um ein unbekanntes Reißerblättchen.
Ich lese die renommierteste Zeitung vor Ort!!
Das zur Probe gekaufte Konkurrenzblatt gleicht
ihm leider wie ein Ei dem anderen. Überall Fotos
im schlimmsten, schreienden, sensationslüsternen
Polizeireporterstil. Die Perspektiven sind
abstoßend, vollfarbig, übelkeiterregend,
ignorieren jegliche persönlichen Rechte, gehen
eindeutig über die Schamgrenzen hinaus. Schon
auf dem Titelblatt ein gestern Gemeuchelter. Die
verdrehten Augen gaffend offen, hingestreckt in
einer schlammigen Wasserlache. Neben dem
reglosen Körper dümpelt nutzlos eine einzelne
Plastiksandale. Die Nahaufnahme eines
Erstochenen, blutüberströmt, im Tod über die
Ruinen einer niederen Mauer gefallen. Ein
Erschossener auf der nächsten Seite. Das Hemd
ein einziger blutiger Brei, im eigenen, schon
nachgedunkelten Blut zusammengebrochen. Dass
es für sowas ein Publikum geben muss, dass Elend
die Auflage erhöht, ist sicher, aber das hier bewegt
sich unter der Schamgrenze.
Beim nächsten Bild, das auch kein einziges Detail
beschönt, kommt, wohl des effektvollen
Bildwinkels wegen, die dicht stehende Mauer
Schaulustiger mit auf Foto. So ein richtig
unglückliches Unglück, ein brutales Verbrechen,
das einem schauerliche Schauer das Rückgrat
hinunterjagt, lässt sich halt keiner, weder
einfacher Gaffer noch gebildeter Zeitungsleser
entgehen. Der Gesprächsstoff, auf tiefstem
Stammtischniveau, ist damit für heute gesichert,
denn wen würde das Elend und Leid der anderen
nicht mit wohligen Schaudern anstacheln.
Auf einen anderen Porträtkult stoße ich im
ehemaligen Rathaus, heute Lokalmuseum.
Galerien mit endlosen Reihen Porträts, die
ältesten in Öl, die ersten Fotografien sorgfältig
retuschierte und kolorierte Schwarz-Weißaufnahmen,
Dreiviertelansichten, frontale Porträts
wechseln sich ab. Es ist die Galerie der lokalen
Bürgermeister, auch andere lokale Elite ist
vorhanden, ein Baron, ein Gouverneur. In andern
öffentlichen Gebäuden andere endlose Galerien:
Generationen und Generationen der lokalen
Elite, Bürgermeister, Gouverneure, Doktoren,
Professoren, Studenten, Lehrer und komplette
Schulklassen. Jahr für Jahr werden die soeben
Diplomierten reproduziert, multipliziert,
wiederholt, uniformiert hinten angefügt -
Referenz, Erinnerung, Hommage, auf geduldiges
Fotopapier kristallisiert, verewigt. Goldene,
feierlich gewichtige Rahmen betonen den
bemerkenswerten Anlass.
Schulabschlussporträt oder Gemeuchelter, ihre
Porträts sind sich im Grunde erschreckend
ähnlich. Das allen zugängliche Medium Foto
erlaubt es, einen besonderen Augenblick für die
Ewigkeit einzufangen und einzufrieren mit dem
Ziel, Status zu demonstrieren oder Schaudern,
für einen Tag nur oder für die Ewigkeit, ihre
Porträts sind im Leben oder im Tod erschreckend
menschlich, erschreckend identisch.
Amazonien, ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata 417