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Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

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Zum Kaffee im Mütterver<strong>ein</strong><br />

Man trifft sich, immer am letzten Samstag des<br />

Monats. Der Mütterver<strong>ein</strong> lädt <strong>ein</strong> zum<br />

Kaffeeklatsch, reihum in <strong>ein</strong>s der Häuser <strong>ein</strong>er der<br />

Beteiligten. Wie es sich für <strong>ein</strong>en Mütterver<strong>ein</strong><br />

schickt, nehmen alle sozialen Schichten daran teil,<br />

in Brasilien doch eher ungewöhnlich. Normalerweise<br />

beschränken sich die außerberuflichen<br />

Kontakte hier auf die eigene soziale Klasse. Aber<br />

im Mütterver<strong>ein</strong> treffen sich die Professorinnen,<br />

die Hausfrauen, ihre Hausangestellten, Besitzerinnen<br />

von Hotels genauso wie Freischaffende<br />

<strong>und</strong> solche, die von Gelegenheitsjob leben zum<br />

Kaffee. Diesmal ist der Kreis kl<strong>ein</strong> <strong>und</strong> intim.<br />

Vielleicht spricht man deshalb offen über so<br />

vieles, über Gott <strong>und</strong> die Welt.<br />

Zuerst wird zum x-ten Mal über den geplanten<br />

Ver<strong>ein</strong>shausneubau <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />

ungeheuerlichen Kosten gesprochen. Der<br />

Mütterver<strong>ein</strong> ist zweigeteilt. Der Ver<strong>ein</strong> besitzt,<br />

<strong>ein</strong>e Schenkung, <strong>ein</strong> relativ großes Gr<strong>und</strong>stück an<br />

<strong>ein</strong>er privilegierten Lage im Dorf. Ein Teil der<br />

Frauen will, wie schon zweimal vorher praktiziert,<br />

<strong>ein</strong>en Teil des Gr<strong>und</strong>stückes verscherbeln. Mit<br />

dem Erlös soll der so ersehnte Neubau finanziert<br />

werden. Dummerweise soll ausgerechnet an<br />

jenes Baugeschäft verkauft werden, dessen<br />

Inhaber der Bruder jenes Mitglieds ist, das den<br />

Verkauf unbedingt durchziehen will. Die andere<br />

Hälfte es Ver<strong>ein</strong>s steht diesem doch eher<br />

<strong>ein</strong>seitigen Interessen gehorchenden Vorschlag<br />

skeptisch gegenüber. So sind die ver<strong>ein</strong>sinternen<br />

Beziehungen im Moment etwas gestresst.<br />

Ob es an dem weißen, brasilianischen W<strong>ein</strong>,<br />

Inhaltsstoffe: Traubensaft <strong>und</strong> Zucker, den außer<br />

mir alle lieben, liegt? Nach dem diskreten<br />

Waschen schmutziger Wäsche wird es<br />

zunehmend privater <strong>und</strong> immer happiger. Das<br />

harmlos dahin plätschernde Gespräch unter<br />

Fre<strong>und</strong>innen wird zum hautnahen Anschauungsunterricht.<br />

Reale Realitäten werden<br />

durchgesprochen, Statistiken bekommen Haut,<br />

Nägel, Haar, <strong>ein</strong> Gesicht. Füllen sich mit Herzblut<br />

<strong>und</strong> Leid. All die verworrenen Lebensgeschichten,<br />

die ich höchstens aus den Novelas, den Soaps<br />

kenne, spielen sich hier gleich vor m<strong>ein</strong>er Nase<br />

ab, anschaulich, glaubwürdig <strong>und</strong> roh.<br />

Die reale Realität erzählt von den endlosen<br />

Spiralen, in denen Generationen von <strong>ein</strong>fachen<br />

Leuten gefangen sind. Kreisen, in denen die<br />

heutigen Generationen wie unter Zwang all das<br />

wiederholen, was die vorhergehenden falsch<br />

gemacht haben. Wie soll es ihnen so je gelingen,<br />

aus Elend <strong>und</strong> Armut heraus zu kommen?<br />

- «Wie viele Enkel hast Du denn nun, zusammen<br />

mit dem Neugeborenen?» - «Dieses <strong>ein</strong>e von<br />

m<strong>ein</strong>er Tochter <strong>und</strong> drei von m<strong>ein</strong>em Sohn. Drei<br />

Enkel, jedes mit <strong>ein</strong>er anderen Frau…». - Einen<br />

der Enkel kenne ich. Er lebt mit ihr, der<br />

Großmutter. Nennt sie, mehr oder weniger<br />

respektvoll, Mutter. Sie versucht ihn aufzuziehen,<br />

neben der Schwiegermutter mit Alzheimer <strong>und</strong><br />

dem neu angefangenen Studium an <strong>ein</strong>er<br />

Privatuniversität. Um die Uni <strong>und</strong> sich selbst zu<br />

finanzieren, arbeitet sie auch noch in <strong>ein</strong>em<br />

Restaurant. Als sie nun kürzlich von der Geburt<br />

der Enkeltochter in <strong>ein</strong>em anderen Staat zurück<br />

kommt, findet sie ihr Haus leergeräumt. Der<br />

Ehemann, mit dem sie in Scheidung lebt, hat<br />

sogar die Toilettendeckel mitgenommen, wie sie<br />

mir erst im Auto unter vier Augen gesteht.<br />

Das Gespräch geht weiter, als sich eher zufällig<br />

herausstellt, dass das kl<strong>ein</strong>e, clevere Mädchen,<br />

das gerade mit der Tochter des Hauses spielt, gar<br />

nicht die leibliche Tochter <strong>ein</strong>er zweiten<br />

Anwesenden ist. Sie zieht das Kind ihrer Nichte<br />

auf. Die Nichte war selber noch <strong>ein</strong> Kind, als sie<br />

schwanger wurde, <strong>und</strong> fühlte sich nicht bereit für<br />

<strong>ein</strong> Kind. So hat es die Anwesende, zusammen<br />

mit ihrem zweiten, dritten, oder was weiß ich wie<br />

vielten, Lebensgefährten sozusagen in Pflege. Der<br />

Lebensgefährte s<strong>ein</strong>erseits ist als Vater des<br />

Kindes registriert. Die leibliche Mutter des Kindes<br />

ihrerseits hat soeben <strong>ein</strong> weiteres Baby<br />

bekommen. Das zieht sie nun selber auf.<br />

Die selbe Frau, die das kl<strong>ein</strong>e Mädchen ihrer<br />

Nichte aufzieht, ihre eigenen drei Kinder sind<br />

schon erwachsen, erzählt freimütig, dass sie<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 888

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