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Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

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Arigó – oder im Land der Blinden ist der Einäugige König<br />

Fast alle Witze, die sie erzählten, begannen mit: -<br />

Als der „Arigó“ nach Brasilien kam…… . –<br />

Enthüllten damit <strong>ein</strong>e so überraschende, wie<br />

unerwartete Weltsicht. Wer die Witze erzählt,<br />

willkommene Auflockerung <strong>ein</strong>es Workshops zur<br />

Qualifikation lokaler Produktion, ganz im Zeichen<br />

von „Empowering“ der lokalen Bevölkerung, lebt<br />

irgendwo, weit weg im amazonischen Hinterland.<br />

Um die ganze Ironie <strong>und</strong> die extrem lokale<br />

Weltsicht, für die lokale Bevölkerung ist Brasilien<br />

da, wo sie wohnen, ihre Heimat, zu verstehen,<br />

muss man allerdings ziemlich weit ausholen.<br />

An die Arigós erinnern heute nur noch <strong>ein</strong>zelne<br />

Namen, besonders in den großen<br />

Geschäftszentren, denn vom Handel verstehen sie<br />

viel. Und auch vom Humor. Den haben sich auch<br />

die Nachkommen der Arigós, leicht an ihren<br />

bleichen Zügen zu erkennen, bewahrt. Die Arigós<br />

kamen aus dem brasilianischen Nordosten.<br />

Bezeichneten sich oder wurden als Arigó<br />

bezeichnet, bis heute <strong>ein</strong> mehr oder weniger<br />

diskriminierendes oder wenigstens ausschließendes<br />

Wort, <strong>ein</strong>e Art lokalen Synonyms für<br />

Fremder.<br />

Die Arigós vervollständigen das bunte Puzzle des<br />

amazonischen Schmelztiegels. Sie sind<br />

interbrasilianische Immigranten, hergebracht aus<br />

Brasiliens bitterarmem Nordosten, flohen in<br />

großen Wellen aus unhaltbaren Zuständen, auf<br />

der Suche nach <strong>ein</strong>em menschenwürdigeren<br />

Leben, viele noch zur Zeit der Hochblüte des<br />

Kautschuks. In jenen gloriosen Zeiten, Ende des<br />

19., Anfang 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, als der Norden<br />

Brasiliens als <strong>ein</strong>e der aufstrebensten,<br />

fortschrittlichsten Regionen Brasiliens galt. Der<br />

Nordosten aber, besonders der Staat Ceará, wurde<br />

von extremen, immer wiederkehrenden<br />

Dürreperioden heimgesucht, die s<strong>ein</strong>e Landbevölkerung<br />

in bitterster Armut in <strong>ein</strong>er Art<br />

Halbwüste zurückließ. Für viele, wie immer die<br />

Ärmsten der Armen, die meisten Analphabeten,<br />

war die Migration der <strong>ein</strong>zige Ausweg. Leichte<br />

Beute für die skrupellosen Vermittler voller<br />

falscher Versprechen , die den Amazonas als <strong>ein</strong>e<br />

"Terra da Fartura", <strong>ein</strong>e Erde des Überflusses,<br />

anpriesen. Gummizapfen im wilden Dschungel als<br />

Ausweg aus der Ausweglosigkeit. Schiffsladungen<br />

über Schiffsladungen wurden sie als billigste,<br />

willigste Arbeitskraft in den Amazonas geholt,<br />

gelangten nach wochenlanger Reise an <strong>ein</strong><br />

fragwürdiges Ziel.<br />

- „Wie viele Arigós, (Nordestinos) kannst du<br />

gebrauchen?“ – wiedergegeben von s<strong>ein</strong>em<br />

Nachkommen, klingt die Frage des Kapitäns <strong>ein</strong>es<br />

Schiffes voller brasilinterner Emigranten an die<br />

lokalen Herren des Amazonas, glaubwürdig. S<strong>ein</strong><br />

Schiff <strong>und</strong> viele ähnliche spuckte so nach <strong>und</strong> nach<br />

immer weiter flussaufwärts all jene armen<br />

namenlosen H<strong>und</strong>e aus, Nordestinos, alle als<br />

extrem genügsam <strong>und</strong> fleißige Arbeiter bekannt.<br />

Es muss <strong>ein</strong> Kulturschock sondergleichen<br />

gewesen s<strong>ein</strong>, von <strong>ein</strong>er Halbwüste in die<br />

monotonen grünen Dschungel katapultiert zu<br />

werden. Schlimmer wohl nur die raffinierte<br />

Ausbeutung, die hier auf sie wartete. Sie wurden<br />

zu nicht viel mehr als modernen Sklaven.<br />

Wer will, kann viele grausame Geschichten lesen<br />

<strong>und</strong> hören. So wie die jenes Mordes aus Rache:<br />

Als s<strong>ein</strong> Vater auf Befehl des Gummiplantagenbesitzers<br />

umgebracht wurde, war er noch <strong>ein</strong><br />

Kind. Schon erwachsen, Jahre später, erfuhr er<br />

zufällig, dass der Auftraggeber des Mordes im<br />

selben Hotel wie er abgestiegen war. Zweifelte<br />

k<strong>ein</strong>e Sek<strong>und</strong>e, lud den immer bereiten Revolver<br />

<strong>und</strong> rächte den Tod s<strong>ein</strong>es Vaters so spät wie<br />

blutig.<br />

Nach dem Zusammenbruch des Kautschukbooms<br />

brachte <strong>ein</strong>e zweite Migrationswelle, diesmal<br />

vom brasilianischen Staat organisiert, geschätzte<br />

60.000 Arbeitskräfte, wieder aus dem<br />

Nordosten, wieder Arigós, in den Amazonas. Die<br />

sogenannten Soldaten des Kautuschuks,<br />

„Soldados da borracha“ wurden während des<br />

Zweiten Weltkriegs hierher gebracht. Die Hälfte<br />

der Männer soll das Ende des Krieges nicht<br />

erlebt haben. Das von Getúlio Vargas im Jahr<br />

1942 ins Leben gerufene staatliche Programm<br />

sollte der vor sich hin serbelnden<br />

Kautschukproduktion wieder Auftrieb geben. Es<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 369

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